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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0081
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BESPRECHUNGEN.

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angelegten literarischen Unternehmen, auf das hier hingewiesen werden soll, gibt der
Herausgeber eine lehrreiche Übersicht über die gegenwärtige Lage der psycholo-
gischen Wissenschaft, freilich unter den ihm wichtig scheinenden Gesichtspunkten
und mit eingreifender Kritik. Einiges aus dieser einführenden Abhandlung „Über
psychische Ganzheit" sei mitgeteilt.

Nach Kruegers Ansicht hat die Psychologie unserer Tage zwei Erkenntnisse
gesichert: erstens die soziale und die genetische Bedingtheit alles Seelischen, zwei-
tens die ganzheitliche Beschaffenheit und gestalthafte Gliederung des Bewußtseins.
In beiden Beziehungen erweist sich die heutige Psychologie als vom deutschen Geist
getragen, vom deutschen Gedanken der Entwicklung und des Ganzen; nur Kant war
„letzten Endes doch ganzheits- und gestaltfremd, daher ungenetisch". Dilthey stand
den neuen Einsichten nahe, obwohl er nicht streng genug schied zwischen wirk-
lichen und idealen Einheitsformen, zwischen vorauszusetzenden Strukturen und
erlebnismäßig gegebenen Ganzheiten. An Driesch ist anzuerkennen, daß er den
Begriff des Ganzen sauber abgrenzt gegen die Aggregate, die summenhaften Ver-
bindungen und die Wirkungseinheiten, hingegen ist zu beanstanden, daß er die Be-
griffe psychisches Ganzes und Sinn vermengt. Wertheimer, Köhler, Koffka werden
schärfer angefaßt, und es fallen Bemerkungen (wie auf Seite 92), die aus der Sache
heraus nicht zu rechtfertigen sind. Der Gestaltpsychologie sei vorzuwerfen, daß sie
den umfassenderen Begriff der Komplexqualität vernachlässige und überhaupt die
seelische Ganzheit nicht in ihrer Fülle erkenne. Krueger erklärt es für systematisch
erforderlich, von der seelischen Wirklichkeit her genauer zu bestimmen, was Ganz-
heit sei. Erst wenn man das erlebte, seelische Ganze durchsichtig gemacht hat,
„wird man mit Erfolg untersuchen können, in welchem Sinne noch anderswo Ganz-
heit als wahr zu behaupten ist, z. B. für geometrische Gebilde, für Begriffe und
Urteile, für Kunstwerke, für soziale Gebilde wie Volk und Staat, kurz überall da,
wo es sich nicht nur um Psychisches handelt". Indem Krueger zugibt, daß in den
Kunstwerken mehr als bloß Seelisches enthalten ist, nähert er sich der in unserer
Zeitschrift seit Jahrzehnten vertretenen Lehre, aber indem er von der Psychologie
ausgeht und nur das Seelische als durchaus wirklich gelten läßt, jede übrige
Ganzheit als eine geforderte behauptet, entfernt er sich von dem, was ich für
Wahrheit halte. Denn auch in unserem Bewußtsein erleben wir niemals ein Gan-
zes ohne Abzug; auch das psychische Ganze ist ein Idealbegriff; und somit ist die
Einheitlichkeit der objektiven Gebilde auf diese Art nicht ausreichend von der Ein-
heit der Seele abzutrennen.

Innerhalb des Seelischen unterscheidet Krueger gegliederte und minder geglie-
derte Erlebnisse — jene setzen diese voraus. „Ein Teilbestand des gegenwärtig Er-
lebten nähert sich in seiner Qualität um so mehr dem Charakter der Gefühle, je mehr
er von dem jetzt insgesamt Vorgefundenen umfaßt, andererseits je weniger er in
sich durchgegliedert und von dem übrigen abgehoben ist. Die Gefühle sind die
Qualitäten des totalen, jeweils unmittelbar gegebenen Ganzen." In das Ganze des
Gefühls finden wir alle unterscheidbaren seelischen Teilbestände eingeschmolzen.
Indessen, der Psychologe ist genötigt, über die Beschreibung des Vorgefundenen
hinauszugehen und „den psychischen Erscheinungen Struktur, d. h. gegliederte dis-
positionelle Ganzheit denkend zugrunde zu legen". Mit dieser Forderung kehrt
Krueger zu Beneke, ja zu Wolff zurück, denn er meint einen geschlossenen Zusam-
menhang von Angelegtheiten, wie ihn die alte Psychologie gleichfalls angenommen
hat. An sich ist auch nicht neu, daß Ganzheit zum obersten Grundsatz aller Ent-
wicklung erhoben wird. Aber die Verbindung beider Gedankengruppen erfolgt in
der eigentümlichen und beachtenswerten Wendung: „Die Strukturgesetzlichkeit des
Psychischen bedeutet erkannte Notwendigkeit seines Werdens". *

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXIV. 5
 
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