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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0091
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BESPRECHUNGEN.

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wicklung? In Rilke allerdings hat eine Hälfte der Entwicklung, die todnahe, einen
gewissen Höhepunkt erreicht: differenzierter, innerlicher, individueller kann der
Todesgedanke kaum gefaßt werden. Hier haben wir einen „reinen Fall" vor uns.

So ideal liegen die Dinge' nicht immer, und gar zu leicht geschieht es daher,
daß die Hand, in der Absicht, die gegebenen Einzelpunkte zu einer gesetzmäßigen
Linie zu verbinden, die Kurve eigenmächtig ein wenig ausrundet. So erscheinen
auch Rehms „Idealtypen" gelegentlich über das wirklich Vorliegende hinaus erhöht,
etwa wenn er dem Barock die Anschauung zuspricht, der Mensch müsse zum eigenen
Tode reifen; das ist mehr als bloßes Bereitsein, ist viel „organischer" gedacht.
Leider hört man das immer und immer wieder nur mit Rehms eigenen Worten aus-
gedrückt, kein Zitat nach einem deutschen Dichter vermag wörtlich zu belegen;
bezeichnenderweise muß Shakespeare das Motto abgeben: „Reif sein ist alles."
Erst später, bei Günther, erscheint dann einmal der Begriff des Reifens zum Tode
in einem deutschen Dichterwort selbst.

Ähnlich liegen die Dinge da, wo Rehm seinen Betrachtungen über den Todes-
gedanken der Klassik die Krone aufsetzt (S. 365): Goethe, im Vorwort zur „Mor-
phologie", fixiert den wichtigen Grundsatz der Organisation, daß Lebendiges auf
keiner Oberfläche wirken könne, sondern stets einer schützenden Hülle bedürfe;
diese Hüllen aber (Rinde, Haut, Haare, Federn) seien dem Unleben hingegeben.
Rehm nun erklärt dazu: „Man begreife den Tod als solche symbolische Hülle der
menschlichen Natur, — man kann nicht großartiger das Werdensgesetz ausspre-
chen, nicht fester Tod und Leben zusammenbinden, nicht tiefer den Humanitäts-
gedanken deuten." Diese Deutung der unlebendigen Hüllen auf den Tod überhaupt
ist zweifellos kühn, ist eine Leistung Rehms und geht über Goethe hinaus. Aber
da sie nicht aus dem einen Goethewort allein, sondern aus tiefer Kenntnis des klas-
sischen Todesgedankens gewonnen ist, mag sie gelten, solange ihr Ursprung
deutlich bleibt. Aber Seite 465 heißt es dann: „Goethe meinte, Tod sei die
Hülle, die das Leben brauche, um zu erscheinen, hier bei Rilke ist es umgekehrt:
Leben ist nur die Hülle des Todes, damit der Tod ganz reife." Klar erkennen wir,
wie hier, durch die Komplementärerscheinung bei Rilke herausgefordert, die alte
Vorstellung vom hüllenden Tod wieder auftaucht, aber nun geradezu als Vorstel-
lung Goethes. (Überhaupt ist man, wie es scheint, gerade bei Worten Goethes gar
zu willig, „sehr tief" zu deuten; vgl. die ganz simple Bemerkung über Winckel-
mann und ihre Auslegung S. 4/5.)

Doch das sind Einzelheiten; im ganzen muß aber betont werden, daß Rehms
Ausführungen durch die Tatsachen wohl unterbaut und gründlich belegt sind. Zu
erwähnen ist besonders die Selbständigkeit seiner Kleistauffassung gegenüber der
Ansicht Ungers von Kleists Opfertod für einen andern Menschen. Leider glaubt
Rehm sich bei diesem „dankbarsten Beispiel" kurz fassen zu dürfen unter Berufung
auf die Arbeiten andrer, eben vor allem Ungers. Auch Ungers sonst so herrliche
Studie scheint mir „die Kurve auszurunden": Wenn Kleist Ulriken vorwirft, sie
habe „die Kunst nicht verstanden, sich zu opfern, ganz für das, was man liebt,
in Grund und Boden zu gehn", so beweist das nicht, wie Unger will, „daß Kleists
ethischem Bewußtsein sein Selbstmordentschluß als Opfertod galt": 1. fragt sich
sehr, ob hier überhaupt vom Opfer t o d die Rede ist (denn mit ihm zu sterben hatte
Marie ebenfalls abgelehnt, ohne daß er sie darum tadelt), und 2. zeigt die Stelle
nur, wie Kleist, egozentrisch, vom andern restlose Hingabe verlangt, erlaubt aber
keinen Rückschluß auf seine eigne Opferfähigkeit. Es wirkt doch sehr sonderbar,
Wenn Unger den Dichter sein Leben lang nach einer Gelegenheit suchen läßt,
sich für jemanden aufzuopfern, der den Mut zum Freitod nicht allein aufbringt.
Nein, Kleist hat auch seiner Kusine nicht „seinen Dienst angeboten", sondern er
 
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