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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0099
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BESPRECHUNGEN.

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und synthetische, weitgespannte Einheit real geschiedener und wesensheterogener
Seinsgebiete. Was heute einen wachen Menschen als durchaus Neues ergreift und
überwältigt, wenn er etwa mitten ins Getriebe einer Großstadtstraße gerät (er nennt
es „das Leben der Straße"), das ist nicht der Rausch der Bewegung und des
Lebens, sondern der Rausch des chaotischen Wirbels aller Sinnes- und Geistes-
sphären: Optisches, Hörbares, Riechbares, Tastbares, Denkbares, Fühlbares, Mensch-
liches, Göttliches, Teuflisches. Es ist gewissermaßen ein immanentes, instantanes
Rasen, nicht nacheinander, sondern ineinander. Es ist eine Mischung von Groteskem,
Komischem und Tragischem, von Bedeutendem und Unbedeutendem — aber „Mi-
schung" als neue elementare Qualität, als ureigene Qualität und „Form" (essentia),
deren bloße „Materie" alle Mischungselemente sind.

Dieses wirklich Neue, dessen die neue Kunst darstellend habhaft zu werden
sucht, ist nicht die substanzlose pure Bewegung, sondern eine neue höhere Sub-
stanz jenseits aller bisher begrifflich bewältigten Substanzformen. Und wie immer,
wo die intuitive Erkenntnis der begrifflichen Erklärung vorauseilt, gleiten die theo-
retischen Erklärungsversuche in die Irre. So spricht man von Stimmungsbildern,
von einem einheitlichen Rhythmus oder von einem neuen Tempo, von einem neuen
Lebensgefühl u. dgl., und glaubt so, auf der Erlebnis- und Subjektseite das Neue
finden zu können. Aber, was in Fällen, wo die Ergriffenheit von etwas ganz Neuem
nach neuer Kunst drängt, wirklich gegeben ist, etwa das, was man so das „Leben"
oder das „Stimmungsbild" einer modernen Großstadtstraße nennt — das ist vor
allem ein neues, ganz eigenartiges reales Objekt. Und zwar nicht etwa die atom-
hafte Summe von allerhand neuartigen Eindrücken. Sondern ein elementar Neues,
ein in sich einheitlich Sinnvolles, gleichsam eine Melodie, deren Element alles ist,
was auf der Straße sinnlich wahrgenommen, gelebt, gefühlt und gedacht wird. Wobei
aber das Entscheidende dieses Vergleiches ist, daß die Melodie bekanntlich eben
nicht die Summe ihrer Elemente ist, sondern etwas durchaus Neues, das jene
Elemente als deren einheitlichen Sinn überbaut. Und eben dieses Neue, die neue
substantielle Form, die eben erst der moderne Mensch zu sehen beginnt — dieses
Neue spannt einen Fluxus zwischen die einzelnen statischen Formen, denen der
menschliche Blick sonst als isolierten allein verhaftet war, bringt sie derart in
vibrierende Spannung, daß sie sich in pure Fluktuation aufzulösen scheinen. So
verfällt man in den Irrtum, zu meinen: das Neue, das die Kunst auszusprechen
habe, sei das Unkörperliche, Unräumliche, Unsinnliche, Unstatische, eine substanz-
lose Dynamis. Damit führt man aber Kunst nur in die Irre. Statt sie gewähren
zu lassen, wenn sie auf Entdeckungsreisen nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für
jene durchaus neue Gegenständlichkeit ausgeht, die den wachen Menschen von heute
zu allererst ergreift, weist man ihr die alten Gegenstandsbereiche mit der Begrün-
dung zu: bisherige Kunst hätte nur die äußeren Häute, das Unwesentliche, den
Schein und wesenlosen Trug der alten Gegenstandsbereiche darzustellen verstanden.
— Bisher hat noch keine Kunst die frühere Kunst desavouiert. Sondern stets nur
dem Schauen schon entdeckter Wirklichkeitsreiche nur neue als gleichgeordnete
hinzugefügt. Und dies allein kann auch Aufgabe der neuen Kunst sein. —

Mag auch der Inhalt von Herzogs Theorie, wenigstens der Tendenz nach, durch
diese Kritik hindurch sichtbar geworden sein, so hat der Referent, indem er sie
Zum Anlaß einer prinzipiellen Auseinandersetzung nahm, im Vorhergehenden nur
bewiesen, wie anregend sie ist, ohne sie eigentlich zu referieren. — Man müßte
die vielen diskussionswerten Einzelbemerkungen des Buches aus der philosophischen
Theorie, in die sie organisch hineinverflochten sind, herausschälen und ins unphilo-
sophisch Deskriptive transponieren. So insbesondere seine Farbentheorie. Ferner
 
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