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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0102
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86

BESPRECHUNGEN.

ganze Gegensätzlichkeit möglicher Einstellungen zu ermessen. V. d. Leyen nennt,
was hier belangvoll ist, seinen Gegensatz zu Naumann selbst einen solchen der Gene-
ration: er verträte die von 1873, Naumann die von 1883. Um so stilwidriger muß wohl
anmuten die Naumannspitze von 1883 auf dem Goltherfundament von sogar 1863!

Wie ordnet sich nun Stammler in diese Autorenreihe ein? Neigt er mehr zum
Typus Golther oder zum Typus Naumann? Diese Frage scheint mir, da die im
vorliegenden Buche von ihm behandelte Zeit immerhin von geringerem allgemeinen
Interesse und vor allem weniger allgemein bekannt ist, am besten durch einen kurzen
Blick auf seine anderweitigen Schriften zur deutschen Literaturgeschichte beant-
wortet werden zu können. Da trifft es sich nun besonders gut, daß er in einem
kleinen Bändchen die „Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart",
mithin also dieselbe Zeitspanne behandelt hati) wie Naumann im VI. Bande der
„Epochen". Auf den ersten Blick erhellt beim Vergleich, daß Stammler durchaus
vom Typus Naumann ist. Dieselben „Größen" der gegenwärtigen deutschen Lite-
ratur werden gefeiert und eingehend gewürdigt, dieselben Persönlichkeiten werden
übergangen. Stammler feiert etwa — um nur einige zu nennen —, „Moderne" wie
Edschmid, Hasenclever, Lasker-Schüler, H. Mann, Sternheim, Toller, Unruh, Werfel.
Er übergeht dagegen, darin genau mit Naumann übereinstimmend, für deutsche
Dichtung m. E. ungleich wichtigere Persönlichkeiten wie Blunck, Boßdorf, Erler,
Fock-Kinau, Gagern, Ginzkey, H. Grimm, Hohlbaum, Schieber, E. Schmitt, Schröer,
Stavenhagen2). Zum gleichen Ergebnis führt ein Vergleich Stammlers mit v. d. Leyen.
Was v. d. Leyens Gegensatz gegen Naumann begründet, schafft den gleichen Gegen-
satz v. d. Leyens gegen Stammler. Läßt dieser etwa seine Darstellung ausklingen
in einen seitenlangen Dithyrambus auf Unruh3), so schreibt v. d. Leyen über den-
selben: „Die Zeit nach dem Krieg ist für die künstlerische Persönlichkeit Unruhs
verhängnisvoller geworden, als der Krieg selbst; sie zeigt ziemlich unbarmherzig,
was an dieser Größe doch nur Schein war. Seine letzten Werke, besonders: das
Buch einer Reise, Flügel der Nike machen nur zu deutlich, daß die Sucht nach dem
Erfolg auch in Unruh viel stärker war, als der echte künstlerische Drang, daß er
um des Erfolges willen sich so oft überschrie. Außerdem machen eine selbstgefällige
Überhebung, eine leicht gekränkte Eitelkeit, und die gerade bei seinem Auftreten
nicht eben gut angebrachte Pose des übernationalen Erziehers sein Schaffen unleid-
lich. Nicht minder verletzt das unaufhörliche Herabsetzen des alten Deutschland;
es geschieht ohne die nötige Einsicht und Würde"*). Man gewinnt den Eindruck,
Stammler verehre das um jeden Preis „Moderne", das Neue nur eben weil es neu
und anders ist als das Alte, das Gewohnte; Kennzeichen eines jeden unnaiven In-
tellektualismus, wie er ja auch heutzutage allerorten so verhängnisvoll herrscht.

Diese Einstellung äußert sich in der Urteilsbildung gewöhnlich in der Weise,
daß alte anerkannte Wertungen „umgewertet", mit Eifer in ihr Gegenteil verkehrt
werden; der Intellektualismus scheint sich vor sich selbst nur rechtfertigen zu
können durch die Pseudo-Originalität solcher Gegenwertungen. Auch in Stammlers
literarhistorischen Schriften finden sich zahlreiche Beispiele dieser Art. Eines der
bezeichnendsten möchte ich seiner „Geschichte der niederdeutschen Literatur"»)
entnehmen. Auch hier ist man in der günstigen Lage, Stammlers Darstellung mit

!) Breslau 1924; 2. Auflage 1927. (Jedermanns Bücherei.)

2) Diese Aufzählung stützt sich auf die Register der ersten Auflagen von
Naumann und Stammler; was in den späteren Auflagen unter dem Einfluß von
Kritiken etwa nachgetragen wurde, würde hier das Bild verzerren.

s) a. a. O. S. 119 ff.

«) a. a. O. 2. Auflage, S. 271.

5) Leipzig und Berlin 1920. („Aus Natur und Geisteswelt" 815.)
 
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