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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0104
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88

BESPRECHUNGEN.

„Er zeigt ... schon jene überschwengliche, bis auf unser Jahrhundert nicht aus-
gestorbene Verehrung lateinisch-humanistischer Bildung, die in eine servile Anbetung
alles dessen, was aus Italien kommt, und in eine unwürdige Herabsetzung der
eigenen Sprache und Kultur ausartet"1). Ähnlich schreibt Vilmar: „In der Zeit
nun ... trat das sogenannte Wiedererwachen der Wissenschaften, d. h. die Bekannt-
schaft mit den Originalen der griechischen und römischen Literatur, ein, und neben
diesen spielte allerdings unsere damalige Poesie die allerännlichste Figur. Jetzt
war es vollends um unsere vaterländische Poesie, es war um unser Nationalgefühl,
um unser Nationalbewußtsein geschehen. Von nun an galt nichts mehr, wurde
nichts mehr gelesen, nichts mehr geübt und getrieben als lateinische Poesie; die
Gelehrten schämten sich nunmehr im eigentlichsten Sinne ihrer Muttersprache, und
waren naiv genug, sich selbst als Barbaren zu bezeichnen, welche gar nichts gewesen,
nichts gewußt und nichts vermocht, bis das Licht der griechischen und lateinischen
Poesie bei ihnen aufgegangen"2). Gervinus überschreibt, schon in der Wortwahl
sein Werturteil enthüllend, den betreffenden Abschnitt: „Rücktritt der Dichtung
aus dem Volke unter die Gelehrten"3). Ähnlich urteilt Kober stein : „Auch die
in dieses Zeitalter fallende Wiederbelebung des klassischen Altertums, so sehr sie
auch die wissenschaftliche Bildung der Deutschen beförderte ..., konnte auf die
Nationalpoesie noch keinen Epoche machenden Einfluß ausüben. Eine verständige
Reinigung und Regelung des in ihr herrschenden, verwilderten Geschmacks nach
dem Muster der Alten, die dem Volksmäßigen keine Gewalt antat, hätte zunächst
von den eigentlichen Gelehrten ausgehen müssen. Allein schon daß die meisten lieber
lateinisch als deutsch schrieben, und daß sich gerade die ausgezeichnetsten und mit
dem klassischen Geiste vertrautesten unter ihnen am allerwenigsten um die vater-
ländische Literatur bekümmerten, konnte nicht dahin Führen"4). Die Reihe gleich-
gesinnter Urteile ließe sich leicht verlängern. Ich möchte indessen nur noch einen
Zeitgenossen anführen, Alfred K 1 e i n b e r g. In seinem Buche „Die deutsche Dich-
tung in ihren sozialen, zeit- und geistesgeschichtlichen Bedingungen", das an moder-
ner Einstellung Stammler gewiß gleichkommt, sagt er jedoch übereinstimmend mit
den soeben angeführten Zeugen: „Im allgemeinen aber wiesen die deutschen Huma-
nisten aristokratische Kühle gerade dort auf, wo das Volk in leidenschaftlicher Glut
aufloderte: von der Verstandeskultur in Wille und Ethos zermürbt, scheuten sie den
lauten, und, ach, so plebeischen Lärm der Tat"5).

So urteilt die beherrschende Tradition über den Humanismus und seine Rolle
innerhalb der deutschen Literatur. Ganz anders Stammler. Indem er damit
Nietzsches und Scherers Wertschätzung des Humanismus folgt, glaubt er so gut wie
die ganze Neuentwicklung der deutschen Literatur dem Humanismus gutschreiben
zu sollen. Schon die Kapitelüberschriften sind unter diesem Gesichtspunkte tenden-
ziös gefaßt: „Neues Lebensgefühl und neuer Stil" bezeichnet die humanistische Be-
wegung, dagegen „Beharren in alter Kunstübung" und, überdeutlich, „Lutherische
Pause" die nichthumanistischen Strömungen. Von der starken Reformationsbewegung
im intellektualistisch-ästhetischen Literaturbetrieb gestört, halten sich die Huma-
nisten nach Stammler „wie edles Wild im innersten Kern ihrer Seele getroffen, ver-

!) Ebenda S. 288.

2) „Geschichte der deutschen National-Literatur." 12. Auflage. Marburg und
Leipzig 1868. S. 243/44.

s) „Geschichte der deutschen Dichtung." Abschnitt VIII.

4) „Grundriß der Geschichte der deutschen National-Literatur." 4. Auflage.
Leipzig 1847. S. 296.

s) Berlin [1927]. S. 85.
 
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