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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Frydmann, Richard: Vertikaleinfühlung und Stilwillen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0149
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BEMERKUNGEN.

133

Wenn wir nun nach Beispielen zur Erläuterung und Verifizierung des Obigen
Umschau halten, so drängen sich uns solche in einer Fülle auf, welche uns im
Interesse der gebotenen Raumbeschränkung geradezu verwirrt machen könnte.
Wir greifen aufs Geratewohl deren einige heraus, mehr des Systems, als der Tat-
sachen halber.

Der Ägypter bevorzugt die Horizontale vor der aufstrebenden Vertikalentwick-
lung. Er läßt alle seine Vertikalen nach abwärts, bodenwärts lasten. Jedes
Ornamentalglied betont entweder das Lastende unmittelbar, oder es reiht sich
Streifen ein, die durch ihre Horizontalanordnung als Ganzes zu Boden drücken.
Die Stilisierung der Skulpturen ist dort am weitgehendsten, wo sie menschliche
Gestalten stehend, etwas geringer, wo sie diese sitzend darstellen und hat stets
den deutlich erkennbaren Zweck, die lastende „Materialgewichtsassoziation" nicht
verschwinden zu lassen. Bezeichnenderweise stehen diesen stilisierten Menschen-
gestalten die oft höchst realistischen Tierskulpturen zur Seite, die als solche eine
Umkehrung der Abwärtsvertikale nicht befürchten lassen. Der Ägypter erfindet in
der Pyramide und im Pylonenbau den monumentalsten jemals erdenkbaren Aus-
druck des Lastens. Die Hohlkehle mit ihrer unter der Sonne des Südens breiten
tiefdunklen Horizontal-Schattenzone betont die Schichtung der Last; äußere deko-
rative Wandbemalung wird so gestaltet, daß eine Unkenntlichmachung des Mate-
riales vermieden wird und das Relief en creux erfunden, welches ohne Verlust der
Materialassoziation eine relativ „lebenskraftlose" Menschen- und Göttergestaltung
erlaubt. Die Säulengestaltung ist eine offenkundig lastende, das Kapitell drückt
als Knospen- wie als Glockenkapitell die schwach oder gar nicht verjüngte Säule
abwärts, welche noch überdies dort, wo eventuell noch ein letzter Zweifel möglich
wäre, durch Horizontalteilungen (Schriftstreifen, malerische oder plastische Gürtel-
ringe) ihres Aufstrebens entkleidet und abwärts gerichtet wird. Eine scheinbare
Ausnahme ist im Gegenteil eine für uns hochwichtige Bestätigung der Grundregel:
das offene Lotoskapitell, seiner Linie nach vergleichsweise aufwärtsgerichtet, ent-
stammt erst dem neuen Reiche, der Zeit der ägyptischen Expansions- und Welt-
machtperiode und bedeutet, ganz im Einklänge mit dem ihm zugrundeliegenden
Vertikalgefühle, eine leise Milderung des doch in seiner Gesamtheit lastend bleiben-
den Grundcharakters der Kulturrichtung, einen leisen dynamischen Einschlag in
die statisch verbleibende Grundkomponente der ägyptischen nil- und erdverbunde-
nen, wüstenverschlossenen, ihre Traditionen durch die Jahrtausende bis zur Er-
starrung konservierenden und jede Abweichung von ihnen mit abergläubischer
Scheu perhorreszierenden Gesamtkultur.

Weitere Beispiele für „Abwärts"-Stile, also für aus diesem Momente zu er-
schließende statisch-zentripetale Kulturepochen können wir im Byzantinischen und
in seinen Fortbildungen im Romanischen erkennen. Die Zentralbauten bedürfen in
diesem Zusammenhange nur der einen bedeutungsvollen Erklärung, daß auch die
Kuppel im Außenbilde eines Architekturwerkes so lange als lastend empfunden
wird, als sie nicht durch ihre steilere Silhouette und die aufgesetzte „Laterne"
eine Aufwärtsstrebung erhält. Immerhin zeigen sich aber hier schon dynamische
Ansätze im Innenbau, die bei den Basiliken noch klarer zutage treten. Es ist keine
zufällige Erscheinung, daß diese Zeit, real und bodenfest bis in die Knochen, der
einzigen mystischen Ader, die ihr floß, dem seltsamen orientalisch-mithräisch-christ-
lichen Religionsgefühle den Ausdruck eine Zeitlang noch dadurch zu verleihen
trachtete, daß sie dem leeren Raum der Tragwand über den Säulenstellungen durch
Mosaiken entweder sein Materialgewicht benahm oder ihm sogar durch stilisierte
Menschendarstellungen einen wenigstens andeutungsweisen Vertikalzug nach auf-
 
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