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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Frydmann, Richard: Vertikaleinfühlung und Stilwillen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0151
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BEMERKUNGEN.

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gotischen Aufwärtsspitze überbleibenden Mittel der Emporziehung, also insbeson-
dere durch die der Höhenentwicklung, der Hindurchführung von Säulen oder
Pfeilern durch mehrere Stockwerke und vor allem durch Verwendung der Lebens-
kraftauftriebe naturalistischer und leidenschaftlichst bewegter Menschengestalten
ihre ganze Kraft dieser Richtungsveränderung zuwenden. An Stelle der unzweifel-
haft emporreißenden gotischen Spitze tritt in erster Linie die Menschengestalt: an
Stelle einer sozusagen geometrischen Klarheit die Ableitung aus emotionalen Regio-
nen der Bewußtseinstiefe. So bleibt dieser Kampf sichtbar und fühl-
bar und ist, psychologisch genommen, der eigentliche Er-
lebnisinhalt jedes G r o ß k u n s t w e r k e s des Barock überhaupt;
ein Kampf, der um so auffallender wird, je bedeutendere physisch-materielle Massen
die beiden kämpfenden Armeen, die des Hinunter und die des Hinauf, auf den
Kampfplan stellen.

Nur nebenbei sei bemerkt, daß wir hierin auch eine psychologische Erklärung
dafür finden können, daß die insbesondere in Österreich und Süddeutschland so
häufigen barocken Altareinbauten in gotischen Kirchenräumen doch trotz ihrer
theoretisch-stilistischen Diskrepanz um so viel harmonischer wirken, als etwa ein
gotischer Einbau in einem Renaissanceraume, ja als die in italienischen Kirchen
so häufigen Renaissancegrabmäler in gotischen Kirchenräumen.

Wir haben es uns bisher versagt, vom griechischen Stile oder vielmehr von
den griechischen Stilen zu sprechen. Dies deshalb, weil diese Stile gerade von
unserem Standpunkt aus einer eigenen höchst eingehenden Analyse von größter
Genauigkeit und daher leider auch größtem Umfange bedürftig wären. Begnügen
wir uns hier nur mit dem Resultate, daß das griechische Volk, in einer nie vorher
und nie nachher erreichten harmonischen Ausgleichung statisch-zentripetaler und
dynamisch-zentrifugaler psychischer Elemente, welche innerhalb ihres doch so ein-
heitlichen Kulturstiles einen Sophokles und Euripides, einen Piaton und Demo-
kritos neben einem Aristoteles vereinigen konnte, den einzigen bisher geschaffenen
Baustil erreicht hat, bei welchem die Vertikalen des gesamten Tragbaues zwar
aufwärts gerichtet tragen, bei welchem aber oberhalb dieser tragenden Glieder
nach einer eine beispiellose künstlerische Genieleistung darstellenden Umkehrung
der Kräfte im Gebälke das scheinbare Gewicht des Daches psychologisch auf das
absolut genaue Maß des von dem Tragbaue leicht, sicher, und doch ohne Über-
schuß lebendiger Kräfte nach oben oder unten zu Tragenden oder im menschlichen
Sinne zu „Ertragenden" reduziert ist.

Es wäre gewiß überhaupt eine lockende Aufgabe, die durchgehende Über-
einstimmung der von uns gewonnenen Erkenntnisse an den einzelnen Eigenarten
aller uns historisch überkommenen Stile nachzuweisen — der Raum dieser Zeilen
zwang uns, die Exemplifikation unserer These auf einige wenige Fälle zu be-
schränken.

Wir können es für sicher halten, daß die seitens der Architektur jeder Stil-
periode, einem unbewußten Zwange folgend, dem Baukunstwerke aufgeprägte
Individuation seiner Vertikaldimension uns ein vollkommen untrügliches Symptom
zur Ergründung der Frage an die Hand gibt, welcher psychisch-energetischen
Kategorie wir die wesentliche Kulturessenz einer Epoche zuzurechnen haben. Wir
haben damit für die Kunstgeschichte eine neue Brücke zu dem Problem hinüber-
geschlagen, welches jenseits all ihrer deskriptiven und pragmatischen Tätigkeit doch
die treibende Seele und der stete Ansporn ihrer Forschungstätigkeit sein muß, zu
der Ergründung des Seelenlebens einer vergangenen, von der unseren radikal ver-
schiedenen Zeitkultur. Die Kynosur der Vertikaleinfühlung erhält aber dadurch
 
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