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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Vogel, Hans: Zur Methode der Geschichte des Kunstgewerbes
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0153
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BEMERKUNGEN.

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setzen (innerhalb der abendländischen Kunst, von der hier allein die Rede ist) früh
ein. Andere, wie die Glaskunst, Keramik, Möbeltischlerei, folgen erst Jahrhunderte
später, andere — engere — Gebiete wieder, wie die Steingutfabrikation, Perlstickerei
und — mit Einschränkungen — der Eisenkunstguß, tragen ausgesprochenen Spät-
Charakter.

Und wie die Einsatzpunkte, so unterscheiden sich bei den einzelnen Zweig-
gebieten die an sie anschließenden Daseinslinien, die nicht etwa in Aufstieg, Höhe-
punkt und Abstieg eine für jedes Gebiet annähernd gleiche Kurve beschreiben; son-
dern es gibt einzelne kunstgewerbliche Produktionen, die etwa dreimal im Laufe
ihres Daseins zu einer führenden Rolle berufen sind (Bronzeguß: frühes Mittelalter,
Hochrenaissance, 18. Jahrhundert), andere, deren Weg zweimal zu einem Höhepunkt
führt (Elfenbein: Mittelalter, 17. Jahrhundert), andere, in denen auf eine nur ein-
malige kurze Aufwärtsbewegung ein sich durch Jahrhunderte hinziehender Abstieg
folgt (Zinnguß). Graphisch dargestellt würde dieses Nebeneinander der Teilgebiete
etwa als eine Anzahl in der Richtung zwar gleich verlaufender, in den Einsatz-
punkten und der Kurvenführung jedoch von einander unterschiedener Linien er-
scheinen.

Wie aber der Rhythmus des Auf und Nieder bei den einzelnen Zweiggebieten
schon ein sehr unterschiedlicher ist, so ist er zugleich auch ein anderer, als der
Rhythmus der großen Stile. Setzen wir die Gipfelpunkte der Gotik und der Renais-
sance etwa um das Jahr 1275 und das Jahr 1500 an, so brauchen die Höhepunkte
aller damals „lebenden" kunstgewerblichen Teilgebiete keineswegs mit diesen Epo-
chen zusammenzufallen. Wohl ist z. B. die Goldschmiedekunst um 1275 durchaus
„vorhanden", ihren Gipfel aber hat sie schon fast ein volles Jahrhundert hinter sich.
Wohl gibt es um 1500 eine Elfenbeinkunst und eine Edelzinnkunst, ihre Kurve ist
aber zu jener Zeit gerade auf einem Tief- bzw. Anfangspunkt angelangt, um erst
ein oder zwei Jahrhunderte später einen Höhepunkt zu erreichen. Es gibt also
neben dem bisher allein beachteten Rhythmus des Stilablaufs und unabhängig von
ihm einen eigenen Rhythmus des Ablaufs jedes kunstgewerblichen Teilgebietes.

Von solcher Anschauung aus wird für die Geschichte des Kunstgewerbes jede
historische Epoche nicht mehr allein durch den in ihr herrschenden Stil bestimmt
sein, sondern zugleich auch durch die Art des Neben-, Mit- und Gegeneinanders der
Teilgebiete. Querschnitte durch die kunstgewerbliche Produktion beliebiger histo-
rischer Zeiten werden die einzelnen Teilgebiete auf sehr verschiedener Stufe ihres
Daseins treffen, werden zeigen, wie zur gleichen Zeit in den verschiedenen Zweigen
mit sehr verschiedener Intensität gearbeitet wurde. Die Epoche um 1600 z. B. wird
in Hinsicht auf ihre kunstgewerbliche Produktion nun nicht mehr nur durch die
stilistischen Begriffe „Spätrenaissance" oder „Manierismus" gekennzeichnet sein,
die Zeit um 1800 nicht mehr nur als „Klassizismus" usf., sondern es wird sich
darum handeln, zu zeigen, welche Teilgebiete damals gerade den Höhepunkt ihres
Daseins überhaupt erreichten, welche vielleicht erst im Anstieg begriffen waren,
welche gegenüber früheren oder späteren Epochen ihren Standpunkt behaupteten,
welche im Abstieg waren und welche — vorübergehend oder endgültig — schon
aufgehört hatten, eine Rolle zu spielen. Aus der Synthese dieser vielfachen Be-
wegungsströmungen aber, aus der Gesamtüberschau über dieses immerwährende
Sich-gegeneinander-Verschieben der Teilgebiete wird ein Geschichtsbild entstehen,
das weitaus reicher ist und der Vielfältigkeit historischen Geschehens näher kommt,
als das bisher herrschende. Denn wir werden jetzt die Geschichte des Kunstgewerbes
erleben, nicht mehr nur als ein Nacheinander von Stilen, sondern als ein ewiges
 
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