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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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Glanz, Robert: Der poetische Wertmaßstab Gustave Flauberts, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0210
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ROBERT GLANZ.

Instinktes zu letzter Schlackenlosigkeit geläuterten Kunstanschauung und
Kunstübung.

Der poetische Wertmaßstab des reifen Flaubert ist weder vervollkomm-
nungsbedürftig noch vervollkommnungsfähig. Unter allen möglichen an-
dersgearteten hat er allein künstlerische Berechtigung. Er ist der poetische
Wertmaßstab schlechthin. Ihn begreifen heißt die Poesie begreifen.

Das eigentliche Ziel der vorliegenden Untersuchung" besteht somit nicht
in der Lösung historischer Probleme, sondern in der Klärung
sachlicher — ästhetischer — Fragen. Alles Historische in den
folgenden Betrachtungen ist nur Mittel zur Erreichung dieses Zieles.

I. Abschnitt: Der Wertmaßstab der ersten dicht-
künstlerischen Entwicklungsphase
Gustave Flauberts.

I.

Der Knabe und Jüngling Flaubert bestimmt den Wert einer Dichtung
nach Maßgabe von Gefühlen, die ihr Gegenstand erregt. Nur nach sol-
chen gegenständlichen Gefühlswirkungen sucht er in jedem Buche; sie
auszulösen ist eigentliches Ziel seines Schaffens.

Wohl den brutalsten Ausdruck gibt er diesem seinem dichtkünstleri-
schen Wertbegriff, indem er das Wort „poesie" geläufig zur Bezeichnung
von Gefühlen bzw. Gefühlsreaktionen aller Art verwendet. *

So schreibt er 1840 nach einem Besuch der Befestigungsanlagen von
Toulon, daß Kanonen nur dann sehenswert seien, wenn sie große Blut-
flecken trügen, daß er nur solche Fahnen schön nenne, die von Kugeln
zerfetzt und durch Pulverdampf geschwärzt seien: daß der zer-
schossene Mantel eines alten Soldaten mehr
„poesie" besitze, als die prächtigste Generalsuni-
form. (O. VII,-411.) Wenn Djalioh, der Held von „Quidquid volueris"
die Wälder betrachtet, die hohen Berge und das Meer, dann zittert er be-
seligt an allen Gliedern, seine Nasenflügel beben, seine düstre Stirn glät-
tet sich und in seinen Augen ist Feuer und „poesie" (App. I, 212); ein
Bedürfnis nach „poesie", ein „besoin de poesie et de Sensation"1) läßt
Adele, das Mädchen, das er liebt, die Zukunft ersehnen (App. I, 218).
Der dämonische Herzog Arthur d'Almaroes des „Reve d'Enfer", den Mee-
reswogen einst schlafend ans Land trugen, stammt aus „regions superi-
eures oü tout etait poesie, silence et amour" (App. I, 176); die Hirtin

*) Es sei darauf hingewiesen, daß das Wort „Sensation" von Flaubert häufig als
Bezeichnung von Gefühlswirkungen gebraucht wird. So z. B. O. VII, 197: „La
religion comporte en soi des sensations presque charnelles; la priere a ses de-
bauches, la mortification son delire et les hommes qui le soir viennent s'agenouiller
devant cette statue habillee y eprouvent aussi des battements de coeur et des enivre-
ments vagues ..." und öfter.
 
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