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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 24.1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.14171#0275
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BESPRECHUNGEN.

259

Kleists Leben und Dichtung" behandelt der folgende Aufsatz Heinrich Meyer-
Ben f e y s. „Die Klatschsucht früherer Zeiten und die mißleitete Phantasie neuerer
Kleistverehrer haben da zusammengewirkt, um ein Vorstellungsbild zu erzeugen,
das freilich dem Geschmack der Gegenwart außerordentlich entgegenkommt, jedoch
mit dem wirklichen Kleist recht wenig Ähnlichkeit hat". Dieses offene Wort des
bekannten Kleistforschers berührt einen Grundschaden unseres Zeitgeistes, der
zweifellos auch in der Kleistbeurteilung, Kleistdeutung, Kleist-„Verehrung" un-
rühmliche Ergebnisse gezeitigt hat. Dennoch vermag ich nicht ganz dem zuzustim-
men, was M.-B. nun gegen diese Kleistdeutung vorbringt. Seine Darstellung von
Kleists Liebeserlebnissen, geschöpft aus Briefen Kleists und anderer, erscheint mir
bei vielen durchaus treffenden Kennzeichnungen doch als aus dieser Gegenrichtung
heraus zu gemäßigt, zu sehr gutbürgerlichen Maßstäben angeglichen. Auf keinen
Fall aber durfte M.-B. mit einigen ausweichenden Sätzen — „mag es sich um
einen dienstlichen Auftrag, mag es sich um einen selbstgesteckten Arbeitsplan han-
deln" — an dem Ziel von Kleists Würzburger Reise vorbeigehen, das, wie Kleists
Briefe zeigen, doch in engstem Verhältnis zu seiner beabsichtigten Ehe mit Wil-
helmine v. Zenge stand und das, wie Kleists Briefe ebenfalls unzweideutig zu zeigen
scheinen, medizinischer Natur war. Es geht jedenfalls nicht an, von der scharf-
äugigen und scharfsinnigen Durchprüfung der Briefe Kleists Stellen auszuschließen,
weil sie sich mit der (wenngleich in bester Absicht) gewollten Deutung des Prüfers
nicht reimen. — Es folgt ein Beitrag „Luise Wieland und Kleist". Werner D e e t -
j e n ergänzt und berichtigt hier auf Grund erneuter Durcharbeitung von Familien-
briefen aus Weimarer Privatbesitz die Angaben über die Beziehungen der jüngsten
Tochter Wielands zu Kleist, wie sie 1911 Bernhard Seuffert in den „Grenzboten"
dargestellt hatte. Genauer und richtiger, als es dort geschah, erfahren wir hier von
Luise Wielands Liebe zu Kleist und ihrer Resignation. — Wie recht Meyer-Benfey
mit der oben gekennzeichneten Tendenz seiner Ausführungen hat, wenn auch ihre
Durchführung einige Bedenken erregte, zeigt der folgende Aufsatz des Jahrbuchs:
„Kleist im Lichte der Individualpsychologie" von Sofie Lazarsfeld. Die Ver-
fasserin, einen Kleistschen Ausdruck zu verwenden, „beeifert" sich, getreu den Leh-
ren der Individualpsychologie, deren Apostel Alfred Adler sie ausgiebig zitiert,
sowohl in Kleist selbst wie in seinen dichterischen Gestalten Neurotiker aus „Organ-
minderwertigkeit" zu sehen, deren Handeln sich vor allem aus „Bewährungsangst"
erklärte. Es ist hier nicht der Ort, über diese individualpsychologische Hypothese
an sich zu streiten. Was aber Kleist anbelangt, so stehe ich, wenngleich ich in der
Deutung der Würzburger Reise der Verfasserin nahe komme, ihren hier entwickelten
Folgerungen, die zum Teil der Komik nicht entbehren, ablehnend gegenüber. Mir
sind, entgegen gewissen Zeitströmungen, Persönlichkeiten wie Kleist auch dann noch
interessant und bedeutend, wenn sie nicht als Neurotiker oder sonst Kranke gel-
ten müssen. Wenn ich also diesen Aufsatz auch mißbilligen muß, so soll darin
doch kein Vorwurf gegen die Herausgeber des Jahrbuchs liegen; vielmehr halte ich
es für wünschenswert, daß in seinem Rahmen die verschiedensten Stimmen zu Gehör
kommen. — Besonnen abwägend untersucht ferner Karl Schultze-Jahde den
„Penthesilea"-Vers: „Verflucht das Herz, das sich nicht mäß'gen kann" daraufhin,
ob es erstens in ihm „nicht" oder „noch" heißen müsse, zweitens daraufhin, ob das
„verflucht" als Imperativ, als absolutes Partizip oder als prädikatives Partizip ge-
meint sei. — Derselbe Verfasser weist dann noch zu Kleists Shakespeare-Anekdote
eine wahrscheinliche Vorlage aus dem „Freimüthigen" von 1803 nach. — Mit
schwerem wissenschaftlichem Geschütz geht im folgenden Karl V i e t o r vor gegen
die Behauptung Arnold Scherings, der verschollene Roman Kleists sei in Wahrheit
die „Vittoria Accorombona", die Kleists erster Herausgeber Tieck als sei n Werk
 
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