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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Kuznitzky, Gertrud: Die ästhetische Gefühlswahrheit, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0043
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DIE ÄSTHETISCHE GEFÜHLSWAHRHEIT.

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edel, rein, vornehm, das sind Charakterbestimmungen, die letztlich nicht
der Erscheinung, sondern der Person zukommen. Wir können sie auch
nicht in jedem Falle von Erscheinungen aussagen, sondern nur dann,
wenn die Erscheinung zugleich mittelbar oder unmittelbar Erscheinung
persönlichen Daseins ist. Wir sprechen von edlen und rohen „Zügen"
eines Menschen, wir sprechen von den reinen oder niedrigen Formen
und Farben eines Kunstwerkes. Wir halten diese Urteilsgehalte
kaum für angebracht, wo sich „Natur", „bloße Erscheinung" vor uns
gestaltet. Andrerseits bedingt der Zusammenhang jener Werte mit dem
persönlichen Dasein, daß sie auch statthaben, ohne sich in sinnlicher Er-
scheinung, im Gestalt-Aufbau darzutun. Edel oder gemein ist der
Mensch unangesehen seiner Gestalt. Gestalt bildet diese Werte ab, aber
sie sind nicht auf Gestalt angewiesen. — Damit werden uns an dieser
Stelle zwei neue Problemzusammenhänge offenbar, von denen wir zu-
nächst nur einen genauer verfolgen dürfen. Wenn die ästhetische Ge-
fühlswahrheit in ihren Sinnzusammenhang ethische Werte wie edel, rein,
roh usw. aufnehmen kann, so heißt das, daß auch diese ethischen Gehalte
„zum Gefühl sprechen". Damit ist nicht erwiesen, daß die ganze Ethik
eine Lehre vom Fühlen ist, wohl aber erweist sich hierin, daß das Gefühl
auch in der Sphäre der ethischen Wahrheiten eine besondere Aufgabe hat.
Die Urteile edel und unedel usw. können nur darum sinnvoll auf Men-
schen und Kunstwerke angewandt werden, weil sie gleich den Urteilen,
die sich allein auf Erscheinung beziehen, gleich den ästhetischen Urteilen
also Gefühlswahrheit sind. Wir haben bisher die Frage, was das Gefühl
in der Sphäre der Seinsbestimmtheit oder des Urteils leistet, nur durch
den Hinweis auf die ästhetische Gefühlswahrheit beantwortet. Wir er-
kennen jetzt, daß die ästhetischen Urteile nur ein Glied im Kosmos der
Gefühlswahrheiten darstellen. Um die Wahrheitsleistung des Gefühls in
ihrer Totalität zu begreifen, ist es nötig, neben der Sphäre der ästhetischen
Urteile die der Gefühlsurteile zu überschauen, und vielleicht ist auch
damit die Leistung des Gefühls gegenüber der Wahrheit noch nicht voll
umschrieben.

Aber zugleich stellt sich eine zweite Frage. Wir sagten, daß wir bei
diesem Übergang zur ethischen Gefühlswahrheit im Kosmos der Ge-
fühlswahrheit überhaupt verbleiben. Wir behaupten dennoch, daß wir
hier zu Urteilen spezifisch anderen Sinngehalts übergehen als sie im
ästhetischen Urteil vorliegen. Ethische und ästhetische Gefühlsurteile
beziehen sich offenbar in gleicher Weise auf Charaktere der Wirklich-
keitsgestaltung und auf Wertgehalte, die dieser Gestaltung zukommen.
Was hat dann die Gliederung in ethische und ästhetische Gefühlswahrheit
für einen Wahrheitsgehalt? — Aber die Frage liegt tiefer. Gefühls-
wahrheit, wie wir sie bisher erfaßt haben, ästhetische Gefühlswahrheit
 
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