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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Wipper, B.: Das Problem des Stillebens
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0064
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50

BEMERKUNGEN.

dere Richtung des französischen Stillebens, die eine größere Schöpferkraft besitzt,
tritt in der Malerei Chardins hervor. Auch Chardin ist eigentlich kein Vertreter
des reinen Stillebens. Er interessiert sich nur selten für die Darstellung der
Dinge an sich. Chardin forscht immer nach den intimen Beziehungen zwischen
dem Menschen und dem Ding, wo im Spiele des Lebens der Mensch zu einem
Bestandteil seiner Umgebung wird, und der Gegenstand in seinen Händen Leben
gewinnt. Aus diesem Grunde wählt Chardin zu seinen Helden gewöhnlich die
Personen, die den Gegenständen am nächsten stehen, die Magd und das Kind.
Damit stimmt auch die Entwickelung der Terminologie überein. Diderot, ein
Prophet des bürgerlichen Genres, gibt eine neue theoretische Erklärung des Still-
lebens. Die Genremalerei (peinture de genre) ist nach seiner Anschauung eine
Darstellung der leblosen und starren Natur (nature morte et brate) und unter-
scheidet sich von der Historienmalerei (peinture d'histoire), welche die lebende
und fühlende Natur darstellt. So gelangte das Stilleben vom Interieur zum Por-
trät und schließlich zum realistisch-bürgerlichen Genre.

Eine neue Periode in der Geschichte des Stillebens beginnt an der Grenze
des 18. und 19. Jahrhunderts. Ungefähr um diese Zeit finden wir in den kriti-
schen Anmerkungen des „Mercure de France", die den Ausstellungen des Salons
gewidmet sind, zum ersten Mal den Ausdruck „nature morte". Ein einziges Mal
in der Geschichte der europäischen Malerei und nur während sehr kurzer Zeit
ist die „nature morte" wirklich nur eine Darstellung der leblosen Dinge. Die
„nature morte" war eine unentbehrliche Gefährtin der Historienmalerei des Klas-
sizismus und der Romantik, ihr gelehrter Apparat, ihre ethnographische Deko-
ration und ihr Anhang. Neben dem Ausdruck „peinture d'histoire" treffen wir
jetzt den Begriff „peinture" oder „objets d'histoire naturelle", zu dem auch alle
Vertreter des reinen Stillebens gelangen. Ihr Ideal ist das Herbarium, ihre
Malerei — die „nature morte" im buchstäblichen Sinne des Wortes.

Aber die Romantik leitete die Malerei sehr bald in andere Bahnen. Der
Maler-Naturforscher empfand den Duft der Blumen, erblickte das Sprießen des
Laubes und konnte nicht gleichgültig gegen das Leben der Natur bleiben. Er ver-
ließ die drückend heißen Treibhäuser und begab sich ins Freie, unter den freien
Himmel. Die Natur, die Landschaft, das Stilleben gewannen eignes inneres
Leben, strahlten Stimmung aus (Stimmungsmalerei), der Mensch aber, der frühere
Herrscher und Held, wurde zu einem Farbenfleck, zum Spielzeug der Naturkräfte.
An die Stelle der „Histoire naturelle" trat die „paysage intime" und mit ihr
begann eine neue Periode in der Geschichte des Stillebens, die man als land-
schaftlich bezeichnen kann. Es beginnt ein Kriegszug gegen die alte Termino-
logie. Ch. Baudelaire beginnt ihn mit seinen „Salons" und W. Burger beendet
ihn mit seiner glänzenden Grabrede auf das Stilleben. Durch seine bewunderns-
werten Worte, die dem Leben der Dinge gewidmet sind, — dem funkelnden Wein
in den Pokalen, der sich im Sonnenschein verflüchtigt, dem Rost, der die
Damaszenerklinge verheert, den Steinvasen, die hell und laut zusammenklingen
und sprühende Funken werfen —, geht es wie eine Ahnung des Impressionis-
mus. Denn für den Impressionismus gibt es ja keine Dinge und keine Formen,
sondern nur Licht und Farben, wodurch diese Formen sichtbar werden. Der Im-
pressionist beschäftigt sich nicht mit dem Sein des Gegenstandes, sondern mit
seiner Erscheinung. Wenn man die Natur von diesem Standpunkte aus betrachtet,
so kann man nicht von einer leblosen und einer lebenden Natur reden: beide
müssen die Netzhaut des Auges und die scheinbare Sichtbarkeit des Lichtes und
der Farbe passieren.
 
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