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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0178
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164

BESPRECHUNGEN.

eignet. Kretschmer meint nämlich, zu der einfachen Begabung müsse beim Genie
noch das Daimonion hinzukommen, und es scheint, daß gerade dieses Daimonion mit
dem psychopathischen Element innerlich viel zu tun hat. Er verkennt nicht das
Zerstörende des Pathologischen, gibt aber Ausnahmefälle zu, wo ein psychotischer
Schub, besonders schizophrener Art, eine vorher durch ganz alltägliche Denkweisen
verdeckte aparte Begabung wie der Vulkan ein tiefliegendes Gestein an die Ober-
fläche bringt. Ich habe selbst in meiner Schrift „Der Künstler" (1925) auf diese
Möglichkeit hingewiesen, nämlich auf die mobilisierende, gefühlsaufpeitschende und
Hemmungen wegspülende Gewalt des Pathologischen. Allerdings drohen da auch
die Gefahren des Hemmungslosen und der Kritiklosigkeit, so daß die Treffer zu
den großen Seltenheiten zählen, und hart neben kühn Großartigem oft das grotesk
Geschmacklose steht. Ich fühle mich daher mit Kretschmer einig, wenn er für Lei-
stungssteigerungen in erster Linie Initialstadien und leichtere Grenzzustände in
Betracht zieht und auch nicht vergißt, die Gefahren auszumalen, für die er beson-
ders die Disharmonie der Anlagen und die affektive Unstetigkeit haftbar macht. Ja
er geht so weit, zu erklären, daß ein kräftiges Stück Spießbürger ineist mit zum
ganz großen Genie gehört. Kein Wunder, wenn er das Normal-Gesunde mit dem
Spießbürgerlichen gleichstellt. Bei Naturen wie Goethe und Bismarck wirkt —
nach Kretschmer — der psychopathologische Einschlag fast nur geniefördernd, die
Persönlichkeit bis zur Überfeinerung sensibilisierend, anstachelnd, kontrastierend,
sie komplizierter, reicher und bewußter gestaltend. Ich glaube, daß man diese Er-
scheinungen schon bei dem viel kleineren Beispiel des Lampenfiebers studieren kann,
ohne hier überhaupt die Frage prüfen zu wollen, wie weit bei Goethe oder Bismarck
von einem psychopathologischen Einschlag mit Recht geredet werden darf. Die
Angst des Lampenfiebers kann den Schauspieler oder Redner sensibilisieren, an-
stacheln usw. Ohne Lampenfieber wäre er schlechter. Aber ein Lampenfieber kann
ebensogut die Leistung schmälern oder ganz aufheben. Bei einer Prüfung wird
mancher Kandidat gerade durch das Lampenfieber zu besonderem Können auf-
gepeitscht, andere wieder gehemmt bzw. gelähmt. Es kommt völlig auf die (bis-
weilen wechselnde) Stellung des „Lampenfiebers" im Aufbau der Persönlichkeit an.
Und gerade da mangeln noch feinere Untersuchungen, da fehlt es noch an einer
Typologie.

Weniger klar sind Kretschmers Ausführungen über Sublimierung. Spielt schon
dieser Begriff in der Psychoanalyse eine bedenkliche Rolle, so ist er auch hier nicht
wirklich analysiert, sondern behält einen Rest von seelischer Alchemie, wie Max
Scheler es einst ausgedrückt hat. Und es bleibt — ungeachtet aller Hintergründe
— doch im Geistreichen, wenn Kretschmer paradox erklärt: „Sobald die Moral
einen gewissen Punkt übersteigt — wird sie zur Perversion." Es kommt ganz dar-
auf an, was man unter Moral versteht. Aber wenn auch Kretschmer in der Tendenz
zu dämonisieren — einer echt expressionistischen Tendenz — zu weit geht, mit
seinem schließlichen Ergebnis stimmen wir wieder überein: Es wäre ebenso falsch,
die wichtigen triebmäßigen Konstitutionsfaktoren für die einzigen Schlüsselpunkte
höherer seelischer Entwicklungen zu halten, wie es ein Zeichen merkwürdiger
Seelenblindheit wäre, aus Weltanschauungsgründen nicht sehen zu wollen, daß die
konstitutionelle Triebstruktur eines Menschen, um mit Nietzsche zu reden, „bis in
die letzten Gipfel seines Geistes hinaufragt".

Bereits bekannt ist, was Kretschmer über Temperamente und Körperbautypen
vorbringt. Gerade diese Lehren haben ja seinen Ruhm begründet. Die sehr inter-
essante Porträtsammlung, die er vorführt, leidet nur an dem Schönheitsfehler einer
gewissen Gewaltsamkeit. Kann man z. B. wirklich Luther unter „Realisten und
Humoristen" einreihen? Ist damit das Wesentliche getroffen? Ungemein fesselnd
 
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