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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0177
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BESPRECHUNGEN.

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anläge gelegenen Gesetzmäßigkeiten zu erkunden und ein lebenswahres Bild schöp-
ferischer Persönlichkeiten zu vermitteln. Kretschmer hofft, daß hierdurch „das
tragische Pathos des genialen Menschen viel tiefer erfaßt wird als durch die über-
lieferten idealisierenden Retuschen". Genie ist für ihn der „Werteschöpfer"; und
ohne über diese Bestimmung urteilen zu wollen, deckt sich jedenfalls meine Ansicht
mit der Kretschmers so weit, daß wir auf die Wesensart des Genies selbst ein-
gehen müssen.

Kretschmer erhebt nun die Frage: wieviel Geniale sind geisteskrank teils ge-
wesen, teils späterhin geworden? Und er antwortet: daß Geisteskrankheiten, beson-
ders aber psychopathische Grenzzustände, unter den Genialen, mindestens bestimm-
ter Gruppen, entschieden häufiger sind als unter dem Durchschnitt der Bevölke-
rung. Was versteht aber Kretschmer unter geistiger Gesundheit? Dem Begriffe nach
den Normalmenschen, den Durchschnittsmenschen, den Philister. Geistig gesund
ist, „wer im Gleichgewicht ist und sich wohl fühlt. Gemütsruhe und Behagen aber
sind noch nie der Sporn zu großen Taten gewesen." Dieser Anschauung zufolge
kann eigentlich jedes Genie eben geistig nicht gesund sein. Es gibt Definitionen des
Genies, die es mit der höchsten Gesundheit gleichsetzen, und die darum im vorn-
hinein das Problem Genie und Irrsinn ablehnen. Nehmen wir aber das Kranke in
die Begriffsbestimmung des Genies auf, ist im Grunde auch schon über das Pro-
blem entschieden. Wir müssen uns doch nach dem Vorgang von William Stern
klar machen, daß Norm nicht ein statistisches Durchschnittsmaß bedeutet, sondern
einen Wert, eine Leistungsfähigkeit. Und dann haben wir uns zu fragen, ob be-
stimmte Leistungen nicht ohne pathologische Momente verwirklicht werden können.
Dabei erscheint mir aber der Begriff des Pathologischen überdehnt, wenn jedes tie-
fere Leid, alle heftigere Spannung und Erschütterung schon unter diesem Zeichen
gesehen werden. Gerade der geistig Höherstehende wird gemeinhin weit schmerz-
licher an dem malum metaphysicum — dem Übel der Endlichkeit — sich reiben
als der Beschränkte, der seine Begrenzung kaum spürt. Das tragische Pathos des
genialen Menschen — das Kretschmer so in den Vordergrund rückt — wird man
weithin bejahen dürfen, ohne gleich ans Pathologische zu denken.

Aber folgen wir weiter den Ausführungen des Verfassers! Er läßt die Psycho-
pathen und Geisteskranken in der Entwicklung des Völkerlebens eine außerordent-
lich wichtige Rolle spielen, die man mit der der Bazillen bildweise vergleichen kann.
„Die Psychopathen sind immer da. Aber in den kühlen Zeiten begutachten wir sie,
und in den heißen — beherrschen sie uns." Das ist sehr geistreich formuliert; allein
auch Kretschmer wird zugeben, daß gerade unter diesen Psychopathen wirkliche
Genies äußerst dünn gesät sind. Er zieht ja keineswegs den Schluß: Genie sei Irr-
sinn. Sondern sagt nur: es sei, rein biologisch gesprochen, eine seltene und extreme
Variantenbildung menschlicher Art. Solche extremen Varianten zeigen vielfach in
der Biologie eine geringe Stabilität ihrer Struktur, eine erhöhte Zerfallsneigung,
und im Erbgang größere Schwierigkeiten der Fortzüchtung als der Durchschnitt
einer Art. Diesen gemäßigten Ansichten stimme ich durchaus bei, in gewissem
Sinne erscheinen sie mir fast selbstverständlich. Aber das schmälert keineswegs
das Verdienst Kretschmers, jene Anschauungen ganz klar herausgearbeitet zu
haben. Problematischer ist das Ergebnis: „Genie entsteht im Erbgang besonders
gern an dem Punkt, wo eine hochbegabte Familie zu entarten beginnt." Ich will
nicht widersprechen; aber selbst bei Annahme dieser Lehre haben wir noch keinen
Anlaß, das Genie selbst als krankhaftes Entartungsprodukt zu betrachten. Und nun
stellt Kretschmer die entscheidende Frage: ist das Genie Genie trotz seiner psycho-
pathologischen Komponente oder gerade durch dieselbe? Allerdings ist in dieser
Frage schon eingeschlossen, daß jedem Genie eine psychopathologische Komponente
 
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