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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0203
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BESPRECHUNGEN.

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habe es als seine Pflicht betrachtet, „in dem höheren Blödsinn der »Galgenlieder<:
und des :>Palmström<: den ganzen protzigen Intellektualismus der wilhelminischen
Epoche durch übersteigerte Logik »ad absurdum^: zu führen"! Das mag auf Dich-
tungen etwa Heinrich Manns und Carl Sternheims zutreffen, doch aber gewiß
nicht auf jene humorvollen Parodien zeitgenössischer „Lyrik". Den dichterischen
Sinn — und zwar meine ich den „Sinn" der Dichtung selbst, der sich nicht unbedingt
mit den Absichten ihres Dichters decken muß — aber vollends der Tendenz opfern
heißt es, wenn Kl. die Handlung von Gerhart Hauptmanns „Biberpelz" folgender-
maßen umschreibt: „ein vollsaftiger, erquickend resoluter Mensch, wehrt sich die
[bieder tuende Diebin] Mutter Wolffen ... erfindungsreich gegen den Mechanismus
der preußischen Bürokratie und deren dummdreisten Vertreter, Amtsvorsteher
Wehrhahn". Zuweilen, wenn auch sehr selten, hat die Tendenz den Verfasser an
einzelnen Dichtern auch Züge wohl geflissentlich übersehen lassen, so etwa im Fall
Josef Winckler, wenn er schreibt: „ebenso können Bröger, Lersch, Josef Winckler
(... »Eiserne Sonetten 1914, »Irrgarten Gottes« 1922) und Jakob Kneip ... das
AH nur durch das Medium der Arbeit sehen, sie schenkt ihnen Aufschwung, Natur-
und Gemeinschaftsleben." Es mag sein, daß Kl. durch Anführung der beiden Buch-
titel seine Behauptung auf diese Werke beschränkt wissen will. Dem widerspricht
jedoch die sonstige ganz einschränkungslose Abfassung des Satzes, besonders das
„nur". Diese einschränkungslose Ausdrucksweise war aber 1927, dem Erscheinungs-
jahr von Kl.s Buch, was Winckler betrifft keineswegs mehr berechtigt, nachdem
bereits 1924 „Der tolle Bomberg" erschienen war, das einzige in weiten Kreisen
bekannte (und m. E. auch das künstlerisch wertvollste) Buch Wincklers, auf das
nun jene Kennzeichnung Kl.s denkbar wenig zutrifft.

Doch das sind Einzelbeanstandungen, die im Blick aufs Ganze nicht viel
besagen wollen, zumal ihnen Einzelzustimmungen an die Seite gestellt werden kön-
nen, die jenen an Zahl und Gewicht sicherlich die Wage halten. Damit komme ich
zu einem höchst eigenartigen Wesenszug von Kl.s gesamter Darstellung. Oft genug
erscheint die historisch-materialistische Beleuchtung wie ein äußerer Zwang, scheint
mehr an der Oberfläche zu haften als in die Tiefe zu dringen. Oft genug, nicht
immer. Oft z. B. wirken die Bilder „proletarischem" Sprachschatz entlehnt, ohne
aus der Sache bedingt zu sein, hergenommen zur Bezeichnung eines Sinns, der
gar nichts mit „proletarischem" Sinn zu tun hat. Ich habe den Eindruck, als wehre
sich auf solche Weise des Verfassers sehr ausgeprägtes künstleriches Verständnis
in sachlicher Gewissenhaftigkeit gegen seine „sozialistische", „materialistische"
Darsteilungsabsicht. KL, der feinsinnige Biograph Grillparzers1) und Anzengru-
bers2), ist viel zu sehr durchblutet von künstlerischem Gefühl und Verstehen, als
daß er letztlich künstlerische Werte über einer außerkünstlerischen Idee vernachläs-
sigen könnte. So erfahren etwa die Klassiker der deutschen Dichtung, ein Goethe,
ein Schiller, an denen seine Theorie kaum wesenhafte Anwendungsmöglichkeiten
finden kann, trotzdem durch Kl. nicht etwa billige Verurteilung, sondern ganz sach-
liche, geistvolle Würdigung. So fällt etwa auf Jean Paul trotz mangelnder Eignung
für historisch-materialistische Einschätzung ein prächtig verherrlichendes Licht.
Und was dem Verfasser ganz besonders hoch angerechnet werden muß: ein Willi-
bald Alexis, materialistischer Literaturgeschichte gewiß kein bequemer und an-
genehmer Gegenstand, findet folgende in ihrer Knappheit geradezu meisterhafte und
völlig anerkennende Schilderung: seine Romane „wirken nicht durch die unüber-

3) Franz Grillparzer. Der Mann und das Werk. Leipzig 1915 (Aus Natur
und Geisteswelt. 513).

2) Ludwig Anzengruber. Ein Lebensbild. Stuttgart und Berlin 1921.
 
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