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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0202
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BESPRECHUNGEN.

nachlässigte Beziehungen sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Art, in die sich
der Dichter und sein Werk eingelagert finden, andrerseits kommen trotz der
Grundauffassung der Darstellung die Eigenwerte der Dichter und ihrer Werke
dank der Sachlichkeit und künstlerischen Feinfühligkeit des Verfassers von selte-
nen Ausnahmen abgesehen voll zur Geltung. Um der Grundauffassung willen
freilich kann man ja mit dem Verfasser rechten. Zwar besteht darüber kein
Zweifel, daß, wie jeder Mensch überhaupt, also auch der Dichter in sozialen und
wirtschaftlichen Verhältnissen dauernd lebt, soziale und wirtschaftliche Verhält-
nisse auch auf sein Schaffen in irgendeiner Weise von Einfluß sein werden. Des-
wegen braucht er keineswegs „soziale Dichtung" hervorzubringen. Zwischen
sozialer Tendenzschriftstellerei etwa und völlig lebensferner „artistischer" Dich-
tung gibt es unzählige Möglichkeiten. Und bedenkt man überdies, daß jener Ein-
fluß sich ebenso in bejahendem wie in verneinendem Sinne geltend machen kann,
daß also das Soziale ebenso etwa bejahend Gerhart Hauptmann, dem es Aufgaben
stellt, wie verneinend Stefan George, der es sich bewußt fern rückt, beeinflußt, so
wird man gewahr, daß die soziale Fragestellung und Aufgabe schließlich in jeder
Dichtung irgendwie zum aufbauenden Stoff gehört. Etwas anderes jedoch ist es,
diesen Sachverhalt anerkennen und in der Literaturforschung gebührend berück-
sichtigen — oder ihn zum leitenden Betrachtungsmaßstab machen! Das heißt
m. E. einen Teilgesichtspunkt zu Unrecht übertreiben. Vor allem gelangt man
m. E. auf diesem Wege am wenigsten zu jener doch idealen Literaturforschung
— von der freilich die sonst herrschenden Literaturgeschichten noch in der Mehr-
zahl ebensoweit entfernt sind —, die ihren Gegenstand, d. h. die Dichtungen allein,
in der ihm angemessensten Weise betrachtet, nämlich stilforschend als selbstgenug-
same Kunstwerke. Literaturforschung muß in idealer Entwicklung mehr und mehr
Stilforschung, Literaturgeschichte Stilgeschichte werden, sollen die mehr beiläufigen
Züge (wie etwa auch der biographische) zurücktreten vor der wesentlichen Grund-
artung. Man darf also nicht etwa das „biographische" Verfahren ersetzen wollen
durch ein „soziologisches" oder „materialistisches" oder ein sonstwie geartetes.
Damit ist nichts Entscheidendes gefördert, handelt es sich doch in allen diesen
Fällen nur um Neben züge. Die w e s e n t liehe Weiterentwicklung der Literatur-
forschung liegt einzig in der Richtung der geschichtlichen, vergleichenden und
systematischen Stilkunde.

KI. hat nun also die Einstellung des historischen Materialismus seinem Werke
zugrunde gelegt, und wir müssen kurz beleuchten, wie das, von den berührten
grundsätzlichen Bedenken abgesehen, sich im einzelnen auswirkt. Dabei müssen
unbeschadet der eingangs vorausgeschickten Grundzustimmung notwendige weise
wesentlich Beanstandungen zu Wort kommen. So anregend Kl.s historisch-materia-
listische Betrachtungsweise in vielem ist, oft wirkt sie doch auch sehr persönlich
willkürlich weil außerkünstlerisch „tendenziös" im Sinne einer unsachlich-absichts-
vollen Beleuchtung. Als willkürlich, das Wesen nicht irgendwie treffend empfinde
ich etwa die Kennzeichnung der Gotik als „dieser von der Warenproduktion und
Geldwirtschaft bedingten Kunst", als gezwungen auch die Verknüpfung des Huma-
nismus mit dem Kapitalismus. Fast grotesk eingezwungen erscheint mir auch Kl.s
These in solchem Satz aus der Würdigung Schillers: „Wallensteins Heer, dieses
unerhörte Gebilde der neuen Geldwirtschaft"; mag solche Behauptung für den ge-
schichtlichen Wallenstein und sein Heer vielleicht zutreffen, was ist mit ihr für die
Kennzeichnung Schillerscher Dichtung gewonnen? Man beurteilt und kennzeichnet
doch nicht Dichtung nach den Werten ihres stofflichen Inhalts in dessen außer-
künstlerischer Wirklichkeitsschicht! Die maßgebende Einstellung recht an den
Haaren herbeiziehend wirkt etwa die Behauptung Kl.s, Christian Morgenstern
 
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