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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0211
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BESPRECHUNGEN.

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verwegenem Sprung-, gleichsam phänomenologisch ein organisches System des jüng-
sten Jahrhunderts: „das umfassendste Sinngesetz der Epoche, den reichsten Zu-
sammenhalt jedes mit jedem, die innigsten Wechselbezüge des Größten und Klein-
sten unter gesamt-europäischer Optik". Er berührt selbst die Grenze eines solch
stürmischen Unternehmens, wenn er diesen Sinnzusammenhang negativ als den
keineswegs einzig möglichen, positiv aber als den „unter der angegebenen Jahr-
hundertperspektive notwendigen, wachstümlich in sich geschlossenen, ebenso
nach Natur wie nach Vernunftgesetz gefügten, jeden Strang mit jedem Strang
durchdringenden Zusammenhang" bezeichnet. Seine Darstellung soll nur ein Spiegel
(nicht der Spiegel) des als solchen „unaussprechbaren" Makrokosmos sein, „des
deutschen 19. und aufsteigenden 20. Jahrhunderts" (S. 18).

Dieser Spiegel aber gibt die Dichtungs- und Bildungsgeschichte jener Zeit nicht
in der Form eines breiten Gesellschaftsromans wieder, sondern als säkulares Drama.
In Cysarz' Drama stellen Schiller und Nietzsche mit dem Pathos ihrer heroi
sehen Bereitschaft gleichsam den ersten und den letzten Akt dar, während die
Romantik und der Idealismus einerseits, der Realismus und Synkretismus der bür-
gerlichen Welt andrerseits darin den mittleren und für C. weniger spannungsreichen
Teil ausmachen. Das Werk, das als Vorarbeit zu einem Schillerbuch entstanden
und in vielem mit der zukunftsweisenden leidenschaftlichen Haltung des jungen
Schiller verbunden ist, beginnt mit einer Wiederentdeckung dieses großen Dra-
matikers. Schiller verkörpert für C. die heroische Monumentalität, den „a priorisch
platonisch transzendenten Kosmos des 18. Jahrhunderts", als dessen Gegenspieler die
konkrete pragmatische und psychologische Lebensfülle des 19. Jahrhunderts angesehen
wird. Form und Fülle, Leben und Wissen, Apriori und Mannigfaltigkeit stehen sich
im 19. Jahrhundert in den verschiedenartigsten Spannungen gegenüber, bis endlich
Nietzsche durch Leben und Lehre eine grandios reiche und zugleich monumentale Ver-
mählung beider Mächte schafft. Diese oft blendend durchgeführte Dialektik entgeht
keineswegs der dauernden Gefahr spitzfindiger Konstruktionen und einseitiger
Dogmatismen. Cysarz schert freilich die Geister des 19. Jahrhunderts nicht alle
grob und uniform über einen Kamm. Er scheidet vielmehr die prometheischen
Naturen, die kraftvoll-leidend im Gegeneinander jener polaren Mächte stehen oder
um ihr Ineinander ringen, von den epimetheischen, die fast problemlos ihr Neben-
einander hinnehmen oder sie in bürgerlichem Sicherungsdrang verniedlichen. So
kommt es bei ihm gleichsam zu einer doppelten Besetzung des Ensembles, bei der
die erste Reihe der Promethiden einseitig den Vortritt erhält. „Die folgende Dar-
stellung — wird S. 23 verkündet — rückt jene heroisch-prometheischen Motive be-
wußt und offen voran." So ist es auch kein Zufall, daß die besten Gedanken, die
stichhaltigsten Erkenntnisse in diesem Buch den großen Dramatikern des Zeitraumes
gelten. Schiller z. B. wird hier der bürgerlichen Familienatmosphäre seiner Epi-
gonen endgültig entrissen und wieder als unsterbliches Standbild des Opfermutes
und -dienstes stabilisiert. Schillers überpersönliche Welt und sein Sinn für die
Weltordnung, die Herren und Knechte in gleicher Weise den Gesetzen von Schick-
sal und Schuld unterwirft, werden eindrucksvoll und richtig dargestellt. Freilich
übersieht C. dabei erheblich die bedeutenden typenpsychologischen Einsichten Schil-
lers, die gerade die moderne Psychologie erst voll zu würdigen und auszuwerten
beginnt. (Vgl. etwa C. G. Jung, Psychologische Typen, Zürich 1921, Kap. II,
Schillers Ideen zum Typenproblem.)

Bei der Umreißung Kleists, der „einen ersten tollkühnen und tödlichen Sprung
aus der idealistischen Welt hinüber ins 19. Jahrhundert tut", erscheint mir die Gegen-
überstellung mit Grillparzer besonders fruchtbar. Dieser abgründig quietistische
Psychologe und Neurastheniker wird von seinem österreichischen Interpreten ganz
 
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