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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0212
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BESPRECHUNGEN.

vorzüglich aus dem Spätherbst des österreichischen Barock und der Windstille der
Metternichzeit ergründet und als der einzig wahrhafte Ausgleich zwischen idea-
listischer und realistischer Welt begriffen. Ähnlich produktiv wirkt sich die Pro-
blemstellung bei Hebbel aus. Hier zeigt der Verfasser in dieser Schärfe wohl zum
erstenmal (teilweise mit Anlehnung an die ausgezeichneten Studien von Elise Dosen-
heimer) die Doppelnatur des Dithmarschen auf, seine zwiefache Heimat in der ge-
schichtsphilosophischen wie in der geschlechterpsychologischen Region. Diese
Polarität Hebbels läßt sich in der Tat ohne Zwang aus seinen Dramen belegen.

Bei Nietzsche unterstreicht C. im Gegensatz zu Bertrams bekanntem „Mythos"
vor allem den idealistischen Umwerter und Titanen, den Immoralisten aus Moral.
So sehr hier auch die ganze Fülle der Farben, Düfte und Narkotika Nietzsches er-
wittert wird, in erster Linie entschleiert diese Darstellung doch den Kämpfer des
„sibi imperas", den ethischen Ringer um den Sinn des Lebens.

C. betont einmal treffend in einer Polemik gegen Strich, daß die Nachgeschichte
eines geisteswissenschaftlichen Phänomens (etwa bei der Romantik die Beziehung
Romantik: Richard Wagner) für den Betrachter so wichtig sein müsse wie die Vor-
geschichte (z. B. Herder-Romantik). Daher gelingt diesem „rückwärts gewandten
Propheten" auch die Freilegung der Übergänge und Verzahnungen zwischen seinen
literarischen Gebirgsmassiven oft überraschend gut. Bei dem Grenzfall E. Th. Hoff-
manns, diesem realistischsten Romantiker z. B. wird der ausgeprägte Gestaltungswille
als Sonder- und Übergangsmerkmal erkannt; ebenso werden typische Lebens- und
Kunsthaltungen einer Periode wie das Wandern als Lebensausdruck der Jungromantik
oder der „Zerrissene" als die Wesensform der Jungdeutschen scharf abgehoben.

Problematisch und anfechtbar erscheint mir dagegen die Behandlung der zweit-
klassigen Epimethiden, hier hauptsächlich vertreten durch die poetischen Realisten.
So großzügig C. die Erhabenheit auch dieses Aktes seines Dramas über Lob und
Tadel zugesteht, so treffsicher er die völlig unpsychologische Umweltschilderung
des rechtsinnigen G. Freytag festnagelt und den Stimmungsnerv eines Th. Storni
als des Dichters des long long ago bloßlegt — im ganzen gehört den Dichtern
(und Könnern!) der in sich vollendeten Kleinwelt, des tiefsinnig-kauzigen Humors
doch nicht die verstehende Liebe dieses sentimentalischen Interpreten. Wie könnte
er sonst den eruptiv groben Dorfhumor eines Jeremias Gottheit über die Kunst
Gottfried Kellers stellen, dessen Poesie nach C. ausschließlich bei Milchkühen und
Zugpferden liegen soll! Gewiß war nun Keller primär kein Sänger von Helden-
sagen, aber eine heroische Gestalt wie die des Ulrich Zwingli in seiner „Ursula"
erweist allein schon das Verfehlte solcher These. Auch die Kleinwelt Kellers birgt
noch fast die ganze Sinnfülle des Komischen und Tragischen in sich. Die Einseitig-
keit dieses malerischen Weltbilds, die geringe Exaktheit in der Darstellung von Be-
wegungen und rapiden Vorgängen sei zugegeben. Aber dafür liegt hier in dem
unbeirrten Blick eines reinen Auges die unverkennbare Meisterschaft. „Nur die
Ruhe in der Bewegung, so heißt es einmal in der 1. Fassung des „Grünen Hein-
rich", hält die Welt und macht den Mann; die Welt ist innerlich ruhig und still,
und so muß auch der Mann sein, der sie verstehen und als ein wirkender Teil von
ihr sie widerspiegeln will. Ruhe zieht das Leben an, Unruhe verscheucht es; Gott
verhält sich mäuschenstill."

Hinter der freundlichen Anhöhe Keller ragt der Olymp Goethes hervor. Auch
er läßt sich in die Kategorien des heldischen und des gütigen Menschen, mit denen
der Verfasser arbeitet, nicht ohne weiteres einordnen. Goethe war schließlich ja
nicht nur Faust! Der große klassische und der kleinere realistische Epiker bleiben
so in allem Wesentlichen mit Notwendigkeit jenseits dieses dramatischen Jahr-
hundertstranges.
 
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