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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0291
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BESPRECHUNGEN.

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rienlehre. Das Wesen der Dinge rindet in ihrer Form sichtbaren Ausdruck, tritt
hervor im Akt künstlerischer Darstellung, der das Zufällige von dem Notwendigen
scheidet. — Kunsttheorie und Wissenschaftstheorie durchlaufen die gleichen Phasen
des Denkens. Für die Kunsttheorie der Renaissance ist wesentlich, daß das pulchrum
sich vom bonum zu lösen beginnt, um sich mit dem verum zusammenzuschließen.
„Die Kraft des Geistes, des künstlerischen wie des wissenschaftlichen Ingeniums,
besteht nicht darin, daß beide sich in ungebundener Willkür ergehen, sondern daß
sie uns den „Gegenstand" in seiner Wahrheit, in seiner höchsten Bestimmtheit erst
sehen und erkennen lehren." (S. 173.) Das Zusammengehen von Kunsttheorie und
Wissenschaftstheorie trägt weitere Früchte in der „Rückeroberung Athens aus
Alexandrien", in der Wiedergewinnung des echten Plato, für den die Flucht in den
Logos die Flucht in die Mathematik bedeutete, und in der Neugestaltung der theo-
retischen Auffassung von der Sinnlichkeit, die beim Cusaner beginnt. Der Erfah-
rungswelt wird ihr Eigenrecht erkämpft. Empirischer Gehalt und mathematische
Form bleiben aufeinander bezogen, aber das Empirische soll nicht im Ideellen auf-
gehoben werden, sondern das Ideelle findet umgekehrt erst im Empirischen Er-
füllung, Bewährung, Berechtigung. So wird jetzt die Bewegungslehre zum Ziel
aller reinen Mathematik. An der Bewegung, die als Gegenstand des Wissens Ideali-
tät besitzt, lassen sich mathematische Wesensgesetze aufweisen. Diese veränderte
Auffassung von der Natur der Bewegung erfordert eine Umformung der Lehre
vom Universum, schafft aus sich einen neuen Weltbegriff und bildet damit den Keim
der modernen Kosmologie. Nikolaus Cusanus geht auch hier voran mit einer klaren
Formulierung des Gedankens der Relativität von Ort und Bewegung, an Stelle der
festen Orte und Maße der aristotelischen Welt. Damit wird die Aufgabe dringlich,
Gesetze der Veränderung und Regeln der Bewegung aufzufinden. Kepler und
Galilei schaffen die Denkformen für die Ausbildung einer neuen Wissenschaft
der Dynamik, der in Giordano Bruno ein dynamisches Weltgefühl mit ethischer
Färbung präludiert. Bruno nimmt die Ergebnisse wissenschaftlicher Entwicklung,
nimmt einen neuen Raumbegriff in kühnem Flug der Phantasie voraus. Raum, Kraft
und Leben des Universums sind für sein Denken ungeschieden, Wissen vom Sub-
jekt und Objekt ineinander verwoben. Die Anschauung des Unendlichen ist eine
Tat des Ich. Nicht auf dem Universum, sondern auf dem Ich liegt bei ihm der
Ton. Auch bei Giordano Bruno tritt die Dialektik hervor, mit der die Renaissance-
Philosophie dauernd zu kämpfen hatte, der Grundgegensatz im Verhältnis des Men-
schen zum Kosmos: „Der Mensch erscheint dem Universum, das Ich erscheint der
Welt gegenüber zugleich als das Umfaßte und als das Umfassende" (S. 200). Die
Unendlichkeit des Kosmos droht das Ich zu vernichten, und dient ihm doch als
Quelle der Selbsterhöhung. Die Antinomie, die darin liegt, hat die Philosophie der
Renaissance nicht aufgelöst, aber zuerst klar erkannt.

Sind wir Cassirer gefolgt auf dem Wege, den er zur Erreichung seines Ziels
durchschreitet, so will es uns im Rückblick scheinen, als sei zuweilen die Renais-
sanceproblematik zu stark belichtet von der Philosophie der Gegenwart aus, so daß
Licht und Schatten sich anders verteilen als in der Zeitbeleuchtung möglich war,
und die Umrisse sich verändern. Aber daß in allen Einzelfragen noch nicht das
letzte Wort gesprochen ist, besagt nichts gegenüber dem starken Eindruck, den
das Werk als Ganzes hinterläßt.

Berlin. Gertrud Jung.
 
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