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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Reitzenstein, Alexander Frhr. v.: Frühgotik der deutschen Plastik: ein Beitrag zum Thema Bamberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0336
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ALEXANDER FREIHERR v. REITZENSTEIN.

Sie (oder irgend eine darstellende Kunst) war es ja auch nicht, die
zu dem Begriff des Kompositstiles geführt hatte. Sie hat kaum jemals
Stilbegriffe erstmalig vermittelt. Stile gewinnen sichtbarsten Ausdruck
in den bis zu einem gewissen Grade der Willkür freier Gestaltung ent-
rückten Elementarformen der Architektur. Diese exponiert das Schema
eines Stiles, stellt seine Tendenz gleichsam in Abstrakto an die Ober-
fläche. Daß Stilkriterien zuerst immer von der Oberfläche abgelesen wer-
den, bezeugen eben jene primitiven Stilgleichungen.

Die Bestimmung einer Figur als „gotisch" wollte zunächst nur eine
Angabe über ihre zeitliche Einordnung machen — „Spitzbogenstil". Erst
allmählich füllten sich die Stilbegriffe auch in Ansehung der Plastik mit
bestimmteren Anschauungsinhalten. Je vielfältiger, je reicher sich diese
nun gestalteten, um so fühlbarer mußte die Spannung zwischen den über-
lieferten Stilbegriffen und den von ihnen nominell überdeckten Erschei-
nungen ins Bewußtsein treten. Eine ihren Stoff stetig mehr differenzierende,
an Nahsicht gewinnende Forschung schränkte den Geltungsbereich der
konventionellen Stilbegriffe erheblich ein, indem sie immer nur einen Teil
der von ihnen nominell überdeckten Gebiete mit ihnen zu wirklicher Dek-
kung brachte. Allein, sie erreichte es nicht, ihre Ergebnisse als Neu-
bezeichnungen praktisch in Umlauf zu setzen; der alte Begriff unterlag
der Kritik, die alte Bezeichnung hielt ihr stand.

Die Erkenntnis dieser Situation bot keinen Grund, die Angriffsfront
gegen die Gültigkeit der konventionellen Stilbegriffe zu verringern oder
gar zurückzuziehen. Es ist kennzeichnend, daß die im Gegenteil nun
erst von allen Seiten her einsetzenden Angriffe ihre Basis in jene schwach
bewehrten Stellen verlegten, die eine ältere Forschung ihren „Über-
gängen" reserviert hatte. Die alten Stilbegriffe erwiesen sich mindestens
an den Rändern ihrer Erscheinungskontingente undicht (und waren ein-
mal die Ränder angefressen, ließen sich leicht Wege ins Innere finden).
Die Tätigkeit der Kritik stellte nun die überlieferte Periodisierung in
Frage, ohne eine überzeugende Neusetzung gegen sie einbringen zu
können; an Vorschlägen dazu fehlte es zwar nicht, aber der Erfolg war
der negative einer drohenden Sprach- und Begriffsverwirrung (und ist
es heute mehr als je). Die Entscheidung, wo (mit Absehung von „Über-
gängen") ein Stil aufhöre zu sein und ein anderer beginne, wo der
Tangentialpunkt zweier Stilkreise auf der Linie geschichtlichen Verlaufes
anzunehmen sei, ist infolgedessen erschwert. Möglich muß sie aber sein.

Denn die Stilgeschichte kennt keine neutralen Zonen-Zwischengebiete
(„Übergänge"), die von zwei Seiten her mit gleicher Lichtstärke bestrahlt
werden; stets bestrahlt eine Seite mit stärkerem Licht, dieses wird von
dem der anderen Seite nur transparent überschichtet. Als eine trans-
parente Schicht — um bei dem Bilde zu bleiben — möchte das Mate-
 
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