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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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Reitzenstein, Alexander Frhr. v.: Frühgotik der deutschen Plastik: ein Beitrag zum Thema Bamberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0364
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ALEXANDER FREIHERR v. REITZENSTEIN.

zungen der Gotik in sich enthalten; in sie sind Keime gelegt, die in all-
mählicher Entfaltung die sie einhegende Substanz des Romanischen
mehr und mehr zurückdrängen und sie endlich durchwachsen. Jener
gemeinhin Frühgotik genannte Prozeß der französischen Kunst ist nun
aber nichts anderes als die Entwicklung des Gotischen innerhalb
des Romanischen, oder besser: die Entwicklung der Möglichkeit
der Gotik in der Romanik, die sich bis zur Verwirklichung steigert und
mit der Verwirklichung der in der Romanik der Möglichkeit nach ent-
haltenen Gotik abschließt. Es ist unrichtig, das Werden der Gotik schon
gotisch zu nennen. Das Werden der Gotik verläuft in einer anderen
Ordnung. Erst da, wo es in sein geschichtliches Ziel einmündet, tritt
die in ihm von Anfang an angedeutete, aber zunächst hinter die es noch
bestimmende romanische Ordnung zurückgestellte gotische Stilgesetzlich-
keit in Kraft. Nun gibt es selbstverständlich _ Formen, die den ihrer
Beschaffenheit innewohnenden Sinn erst als Funktionen der Gotik ganz
erfüllen konnten: Für die Gotik prädisponierte Formen, die sozusagen
nur auf die Gotik warteten. Allein, das allmähliche Reifwerden dieser
Formen geschieht in Einbindung in eine noch romanisch bestimmte
Totalität, deren Ausdruck sie bei aller gotischen Prädisposition, so lange,
als sie diese Totalität nicht durchwachsen, darstellen müssen. Erst wenn
sie imstande sind, die ihrem So-sein von Anfang an immanente Möglich-
keit der Gotik wirklich zu machen, entheben sie sich der ihrer Ent-
wicklung noch überstellten romanischen Stilgesetzlichkeit, so daß sich
der sie zunächst als Tendenz, als Triebkraft vorwärts bewegende Stil-
wille (der sie gleichsam von seiner Zukunft her anpackt) als eigener
und neuer Ausdruck in ihnen investieren kann.

Der gotische Stilwille setzt sich nun aber in Frankreich nicht wesent-
lich früher durch als in Deutschland — nicht wesentlich frü-
her deshalb, weil er, insoferne ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, in
Frankreich natürlich etwas früher in Erscheinung treten muß; die zeit-
liche Differenz ist aber so gering, daß sie stilgeschichtlich ohne Bedeu-
tung bleibt. Der Zusammenschluß der in der Romanik enthaltenen, der
Tendenz (nicht der Wirkung) nach gotischen Elementarformen zum
System der Gotik vollzieht sich in den französischen Bauhütten vielleicht,
ja wahrscheinlich unter den Augen und mit Beteiligung jener Deutscher,
die, in die Heimat zurückgekehrt, die deutsche Frühgotik begründen.

Ist es unrichtig, die erste Gotik als Frühgotik zu bezeichnen, wenn
die allgemein an Frühstile geknüpfte Bedingung der Vorstellung des
Werdens an ihren Begriff herangebracht wird, so besteht nun doch,
unter anderem Aspekt, eine Veranlassung, an der hergebrachten Be-
zeichnung festzuhalten. Unterteilt man die Geschichte der Gotik nach
dem Grade der Intensität, in dem sich der Stilwille jeweils in ihr er-
 
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