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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0387
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BESPRECHUNGEN.

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die des ritterlichen Adels, in der geistigen Führung der Nation verdrängt und die
künstlerische Welt ihren Zwecken, ihrem Lebensstil anpaßt. Diesem Wandel der
sozialen Atmosphäre entspricht der Übergang zum Stil der Spätgotik. Die Hallen-
kirche, die Vereinheitlichung des Raumes auch in den weltlichen Bauten, neue For-
men einer zugleich äußerlich verweltlichten und innerlich vertieften bürgerlichen
Frömmigkeit — all das stammt aus den gleichen geistigen Tiefen, aus denen nun
auch ein neuer Stil des wirtschaftlichen Lebens emporsteigt: auch hier ein energisches
Sichabwenden von traditioneller Gebundenheit; eine Wendung in die wirtschaftliche
Weite, zur Dehnung der bisher eingehaltenen Grenzen, konkreter gesprochen zur
Sprengung der Zunftfesseln, zur Erweiterung der Marktsphäre in Ankauf und Ab-
satz über ganz Deutschland und z. T. über dessen Grenzen hinaus in die Weite des
damaligen Weltmarkts. Diese Wandlung aber wird von B. als so fundamental, so
wesenhaft, so sehr neue Werte schaffend angesehen, daß er daraus das Recht ent-
nehmen zu dürfen glaubt, die Jahre 1350—1500 als eine eigne stileinheitliche Periode
auszuscheiden, deren Hauptcharakteristika waren: Entfaltung der Individualität,
scharfe Profile neu hervortretender Unternehmernaturen, Rationalismus und wirt-
schaftliche Expansion. Die Grenze nach rückwärts ist einigermaßen scharf gezo-
gen, die nach vorwärts bleibt dagegen ziemlich verschwommen und unklar: dort
energisches Ankämpfen gegen alte Tradition, hier eine allmähliche, fast bruchlose
Weiterentwicklung zu kapitalistischer Wirtschaftsform.

Diese These wird, von einem umfangreichen und tragfähigen Material ge-
stützt, mit großer Energie und Oberzeugungskraft vorgetragen. Scharf werden
die angeblichen Unterschiede zwischen „Wirtschaftsstufe" und „Wirtschaftsstil" ein-
leitend hervorgehoben: pragmatisch jene, genetisch diese; jene von einer deduktiv
gewonnenen Gesamtanschauung ausgehend mit dem Zweck, die konkreten Erschei-
nungen an ihr zu messen, in sie einzupassen und das nicht in sie eingehende als un-
wesentlich auszuschalten; diese aus dem induktiv gewonnenen Stoff das wesentliche
heraushebend; jene die statischen Elemente des Geschehens jeweilig betonend, diese
ganz auf Dynamik, auf Kinetik eingestellt; jene steif und geronnen; diese fließend
und biegsam. — Ich kann hier nur graduelle Unterschiede anerkennen: auch der
„Stil" ist ein keineswegs rein induktiv gewonnenes Ordnungsprinzip, sondern geht
von einer zusammenfassenden, das Ganze überblickenden „Schau" des Wesentlichen
aus, um von dort aus erst die Einzelheiten einzuordnen, ihr Wesen und Werden
— also Statik und Dynamik zugleich — zu ergründen und die entscheidenden Werte
zu fixieren. Ist es — prinzipiell! — unmöglich, für die „Stufen" chronologisch
feste Grenzen zu ziehen, so gilt das gleiche für die Stile: nicht nur, daß sie in den
einzelnen Ländern, in denen sie auftreten, nicht gleichzeitig, sondern nacheinander,
oft um Generationen getrennt, erscheinen: auch in geschlossenen Gebieten läßt sich
Anfang und Ende für den Gesamtbau künstlerischer Produktion nirgends mit einiger
Klarheit umreißen. Dehio läßt die spätgotische Periode, die Periode der sogen,
„deutschen Sondergotik", erst um 1400 beginnen; Bechtel setzt die entscheidende
Wendung bald um 1350, bald 20 Jahre später an; das Ende fällt bei ihm etwa mit
dem Ende des 15. Jahrhunderts zusammen, während Dehio, und mit ihm Worringen
die Gotik gleichsam unterirdisch, nur leicht und flächenhaft von der fremdbürtigen
Renaissancegesinnung berührt und abgelenkt, weiterrauschen und in den gewaltigen
Strom des deutschen Barock einmünden läßt.

Schwerer aber wiegen, wie mir scheint, andere Bedenken. Nach B.s Ansicht
soll der „deutschen Sondergotik", die im tiefsten das urdeutsche Raumempfinden der
frühesten Gotik, der Urgotik, erneuert, der Wirtschaftsstil der Periode als eine
 
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