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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0390
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376

BESPRECHUNGEN.

gibt, sozusagen unverbindlich, Hellenist und Romantiker sein, auf Sophokles und auf
Shakespeare schwören, Phidias und Jean Paul anbeten, die antike Tragödie und den
Witz, den hohen Stil und die Improvisationen des Raffinierten genießen. Aber der
Vorsatz, diese Gegensätze zu rechtfertigen und zu versöhnen, sie gleichzeitig zu be-
greifen, sie mit unerbittlicher Strenge auf die begriffliche Einheit zurückzuführen,,
sie weit und reich in krauser Verschiedenheit auszubreiten — die immer den Stempel
des gemeinsamen Ursprungs bewahrt — dieser Vorsatz würde die Kraft des Dilettan-
ten überschreiten, mag er so wunderbar begabt sein, wie immer man will. Und ge-
rade das ist Vischer gelungen, das hat er zu einem glücklichen Ende gebracht, wenn,
man ihm die paar Ausgangsthesen, die ewig strittigen, zugibt.

Den Hegelianismus Vischers definiert, umreißt, nuanciert Glockner meisterhaft.
Ich würde allerdings wagen, in ihm nicht die wirkliche Wurzel von Vischers Ästhe-
tik zu sehen. Durch Hegel hindurch findet unser Autor die Antike wieder, denn
sein Geschmack, wie ihn Tübingen, Italien, Griechenland fürs Leben gebildet
hatten, sein Geschmack ist klassisch. Was daraus entsteht? Nichts geringeres als
die Grundkonzeption des Buches. Vischer geht vom Schönen aus, von einer Definition
des Schönen, und diese Definition gründet sich auf dem Ideal der klassischen Schön-
heit. Dies Ideal formuliert er so, daß alles, was er liebt, bis hin zu Shakespeare und
Jean Paul, darin Eingang findet. Dies Ideal wird er dann in Bewegung setzen; er
wird dessen Dialektik in ihrem weitverzweigten Auseinander verfolgen, er wird aber
dessen Grund-Identität immer wieder betonen und sicherstellen.

Das ist nicht alles. Weil das Schöne sich in der Natur nur unvollkommen ver-
wirklicht, wandelt der Dynamismus, von dem es bewegt wird, es in das Kunstschöne.
Die Schönheit will sein; sie wird, und wird nur in der Kunstschöpfung. So kommt
es, daß Vischer über das Naturschöne ein Buch, voll von köstlichen Erlebnissen und
Anschauungen, geschrieben hat, das er aber, streng genommen, auf wenige Seiten
hätte komprimieren können (wir wollen uns beileibe nicht darüber beklagen), denn
die reine Schönheit ist nicht hier. Daraus folgt weiter und vor allem, daß das ganze
übrige Werk von einer Kunstauffassung beherrscht wird, die seit 50 Jahren die hef-
tigsten Angriffe hat über sich ergehen lassen müssen. Denn der Fortschritt der
Kunstgeschichte, die von anderen Phänomenen gelockt wird, als
von dem des klassischen Genies, nämlich von der Untersuchung der
Künstlerpsychologie, der Ergründung fremder Zivilisationen usw., hat die Identität
der Kunst und des Schönen ernstlich in Frage gestellt, diese Identität, die Vischer,
trotz seines angeborenen Sinnes für das „Charakteristische", für das Individuelle,
das Burleske, das Karikaturistische mit aller Kraft verteidigt hat. Kallistik und
moderne Kunstlehre sind zweierlei. Aber diese Auseinandersetzung würde uns ins.
Weite führen. Hatte Vischer „Vorurteile", so waren es die Vorurteile einer großen
Epoche des europäischen Denkens. Nichts gibt uns die Gewißheit, daß sie nicht
einmal wieder aufleben: die ewige Sehnsucht nach der reinen Schönheit wird nicht,
für immer die Menschenseele verlassen, wenn nicht die Unrast, die fieberische Suche
nach Sensationen, das schwindelnde sich Überstürzen der Stile, die Stillosigkeit uns
Schritt für Schritt in die Barbarei hineinführen.

Man wird mir Vischers Lehre vom Zufall entgegenhalten, das Gewicht, das sie
im Lauf der Dinge und im Lauf des psychologischen processus dem gibt, was
Vischer „die Zufallslinie" nennt, dies unberechenbare Abweichen, das den logischen
Plan durchkreuzt, die Berechnungen der Klugheit verwirrt, den Gedanken von seinem.
 
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