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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 25.1931

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https://doi.org/10.11588/diglit.14174#0402
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388

BESPRECHUNGEN.

Aber war nicht gerade an jener von H. bekämpften Sophokles-Auffassung, wenn
sie auch in ihren letzten Auswirkungen über das Ziel hinausschoß, doch die zugrunde
liegende Empfindung richtig, daß unsere herkömmlichen Anschauungen von Sophokles
als Schöpfer von Handlungen und Menschen zu unvorsichtig mit den Kategorien
gearbeitet haben, die Dramatik und Dramaturgie für die Würdigung der modernen
Tragödie ausgebildet haben, und daß bei solchen — vielfach recht leichtherzig vor-
genommenen — Übertragungen das spezifisch Hellenische in Gefahr gerät, ver-
wischt zu werden? Und ist nicht gerade H.s Kapitel über die sophokleischen Cha-
raktere ein Beleg für die Gefahr solch voreiligen Identifizierens von griechischem
und deutschem Dichtertuin? Eine Sophoklesdeutung, die mit Befriedigung feststellt,
wie hier dieser, dort jener menschliche Typ vom Dichter beabsichtigt und ausgeführt
ist, wie ihm die „farbenglühenden Charakterbilder" seiner „Heldenmädchen",
„Feuerköpfe" usw. gelungen sind, verrät doch wohl als Schattenseiten ihrer be-
tonten Vorurteilslosigkeit und Schlichtheit eine allzu große Enge und Undifferen-
ziertheit ihrer Erkenntnismittel. H. fragt nicht, wie die menschliche Natur ((pvaig)
Sophokles erschien, in welche Erscheinungsformen gebrochen sie sich seinem gestal-
tenden Auge darstellte, welche seelischen Vermögen, Kräfte, Leidenschaften, An-
sprüche zum Bilde seiner dyadai cptioeic; gehören, worin er ihr Glück, ihre Vervoll-
kommnung, ihre Begrenzung, ihre Gefahren sah, inwiefern die sachlichen Proble-
matiken in dem verfeinerten und — gegenüber Aischylos — innerlich bereicherten
Menschentum seiner Gestalten breite und tiefe Resonanz finden mußten, wie sich
seine Personen zu den objektiv-ethischen Forderungen, zu Konvention, Sitte, Gesetz,
Autorität verhalten und wieweit sie durch dies Verhalten entscheidend charakteri-
siert sind: lauter Fragen, die nach den Einsichten der neuesten Forschungen (vgl.
M. Pohlenz, Die griech. Tragödie [Lpz. 1930] I 171 ff. u. a., W. Schadewaldt, Sopho-
kles' Aias und Antigone = Neue Wege zur Antike, VIII, 61 ff. [1929]) an das Ent-
scheidende des sophokleischen Menschenbildnertums rühren und bei deren Beantwor-
tung sich für das flach-unhistorisch gesehene Vordergrundproblem, die Obersekunda-
frage nach der „Charakterzeichnung" eine Erledigung nebenbei ergeben würde. Das
Bild einer vornehm-großen Menschennatur, eines Adels der Gesinnung, lebte in die-
sem Dichter, der die Entfaltung der attischen Humanität des perikleischen Zeitalters
miterlebt hatte und ihre Wirklichkeiten in die Idee zu steigern vermochte; er wußte
auch um die Probleme dieser Menschenart; aber er hatte nicht gehört oder gelesen,
daß die Aufgabe des Dichters im Zeichnen von Charakteren bestünde. Und wer
sich demgegenüber auf allgemeinverbindliche Regeln alles künstlerischen Schaffens
beruft, wird nicht verkennen, daß diese allgemeinverbindlichen Regeln Abstraktio-
nen aus individuell sehr verschiedenartig bestimmten Einzelerscheinungen sind.

Es bestätigt sich bei der Lektüre weiterhin auf Schritt und Tritt: der Verf., der
sich auf die „Schlichtheit" seiner Erkenntnisse so viel zugute tut, hat den Unterschied
zwischen wahrer, einem letztlich einfachen Sachverhalt artverwandter änXövrig und
einer nicht bis zur Höhenlage des Gegenstandes gelangenden Banalität der Auf-
fassung nicht gesehen. Sachlich ist für seine Untersuchungen eines besonders ver-
hängnisvoll geworden: Man hat treffend gesagt, die griechische Poesie sei aus der
Ehe des Mythos mit der Idee geboren (Jaeger, Antike V, 185); dies gilt in eminen-
tem Sinne für die Tragödie. H. aber hat die Idee ganz außer Acht gelassen. Was
hat denn den Dichter dazu geführt, den ihm gegebenen Mythos so umzuformen wie
er es getan hat? Unter Maßgabe welcher Gedanken, welcher darstellerischen Ab-
sicht hat er ihn neu gestaltet, welchen neuen Sinn oder welches Problem sah er in
den Mythos gleichsam hinein? Es spricht doch wohl manches dafür, daß er sich
 
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