Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

DOI Artikel:
Wulff, Oskar: Kernfragen der Kinderkunst und des allgemeinen Kunstunterrichts der Schule
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0077
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
KERNFRAGEN DER KINDERKUNST.

63

Sprache ein eignes Wort besitzt. Für den Aufbau des Zeichenunterrichts
werden daraus wichtige Folgerungen zu ziehen sein, — keineswegs zu-
gunsten der heute vorherrschenden Bestrebungen. Bakusinskij stellt fest,
daß auf dieser Altersstufe die bewußte Betrachtung der Außenwelt be-
ginnt und eine Gleichgewichtsstörung in den Seelenkräften und infolge-
dessen in dem Selbstvertrauen des Kindes zu seiner zeichnerischen Be-
tätigung hervorruft. Mit der Erkenntnis des eignen Unvermögens geht
die Fähigkeit und der Drang zu schöpferischer Gestaltung der Mehrzahl
verloren, — manchmal für immer. Die Vorstellungen des Halbwüchs-
hngs haften an der gegenständlichen Erfahrung. Was darüber hinaus-
geht, findet keinen lebendigen Ausdruck mehr. Dagegen zeigt sich bei
beiden Geschlechtern eine wachsende Neigung zum Nachbilden (Kopie-
ren). Erst im Jugendalter erwachen mit dem Willen, sich gegen die Um-
welt durchzusetzen, die schöpferischen Seelenkräfte wieder und verbinden
sich mit der durch die Erfahrung geklärten und gereiften Auffassung.
Zugleich aber scheiden sich die Geister. Bei der Mehrzahl gewinnt die
Gestaltung einen vorwiegend rationalen Zug, der mehr auf das Tech-
nische und Konstruktive gerichtet ist. Dagegen führt das Übergewicht
emotionaler Kräfte zu höherer künstlerischer Betätigung. Für beide
Richtungen ist die Wandlung der Anschauungsweise von entscheidender
Bedeutung, wenn sie auch am deutlichsten in der Veränderung der räum-
lichen Bildgestaltung (s. u.) zutage tritt. Die haptische (bzw. motorische)
Auffassung der körperhaften Sehdinge wird nach Bakusinskij durch das
Erstarken der Seherfahrung entbehrlich, weil ihre optische Erscheinungs-
Weise nunmehr über Volumen und Form sichere Auskunft gibt. Ihren
anschaulichen Ausdruck findet diese mit Hilfe der zeichnerischen Ver-
kürzung. Das bedeutet aber nichts anderes als den Übergang zur „aus-
dehnungsveränderlichen" Vorstellungsweise (Britsch). In meine Grund-
begriffe übersetzt, besagt es, daß die Sehvorstellung eine solche Klarheit
gewonnen hat, daß die vorstellungsmäßige Zurückführung der „verscho-
benen Sehform" auf das orthoskopische Erinnerungsbild keine Schwierig-
keiten mehr bereitet, während bekanntlich im frühen Kindesalter Ver-
kürzungen vielfach gar nicht verstanden werden. Zur vollen Auswirkung
kommt dieser Vorstellungswandel allerdings noch nicht in der Zeichnung
des Halbwüchslings, sondern erst in der des Jugendlichen. Das geht
auch aus Bakusinskijs Feststellungen hervor. Er führt ganz mit Recht
aus, daß die Ausbildung von Schrägansichten im halbwüchsigen Alter
bei den regelmäßigen geradflächigen Körpern (wie dem Hause u. a. m.)
beginnt und teilt die Ergebnisse einer überaus aufschlußreichen Ver-
suchsfolge der Darstellung des Würfels mit. Ohne sie hier im einzelnen
zu verfolgen, sei hervorgehoben, daß sie bei den verschiedenartigen Be-
mühungen, die werkzeichnungsmäßige Auffassung in die einheitliche
 
Annotationen