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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Wulff, Oskar: Kernfragen der Kinderkunst und des allgemeinen Kunstunterrichts der Schule
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0078
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OSKAR WULFF.

optische (bzw. perspektivische) umzubiegen, öfters die sog. umgekehrte
Perspektive (Divergenz) der verkürzten Seitenkanten in Erscheinung tre-
ten ließ10). Demselben Vorstellungswandel werden alsbald auch krumm-
flächige stereometrische Körper wie der Zylinder unterworfen, bei den
Lebensformen scheint er hingegen auszubleiben. Haben doch schon Ker
schensteiner u. a. Forscher festgestellt, daß das Kind bis zum 13./14. Le-
bensjahr nur die (orthoskopischen) Uransichten in „erscheinungsmäßi-
ger" Gestaltung fortbildet und über schwache Ansätze der Verkürzung
(z. B. der Füße) nicht hinauskommt. Es ist daher verständlich, daß Baku-
sinskij an ihnen eben nur den Fortschritt von der typischen (bzw. sche-
matischen) zur individuellen Gestaltbildung erörtert. Ergänzend kann
aber darauf hingewiesen werden, daß die auf dieser Entwicklungsstufe
erfolgende Beseitigung der gemischten Ansicht der Menschengestalt als
Veranschaulichung der Sehvorstellung durchaus dem Verzicht auf die
freie kindertümliche Werkzeichnung bei den regelmäßigen Körpern ent-
spricht. Der Grund liegt beidemal in dem augenfälligen Widerspruch
solcher Darstellungsweise zu der Einhaltung des festen Standpunkts der
rein visuellen Anschauung dem äußeren oder inneren Vorbilde gegenüber.

Für die vollplastische Gestaltung wäre hingegen hervorzuheben, daß die
Sehvorstellung nach wie vor die Grundvoraussetzung ihrer Mehransich-
tigkeit bleibt. Nur so erklärt sich ungezwungen die auf dieser Stufe er-
folgende räumliche (dreidimensionale) Entfaltung des Gebildes, während
Bakusinskij sie nur als eine Durchbrechung der beiden in der von ihm
anerkannten Hildebrandschen Reliefanschauung gegebenen Grenzflächen
der Raumschicht ansehen kann. Zu Recht bestehen bleibt trotzdem die
von ihm beobachtete Gesetzmäßigkeit der Abfolge, wie auch ich sie an
einer Sonderentwicklung teilweise bis zur Altersgrenze des Halbwüchsi-
gen verfolgen konnte, nach der sich zuerst die Glieder, dann der Kopf
aus dem statischen (frontalen) Aufbau der Menschengestalt lösen und
zuletzt der Rumpf und mit ihm die Körperachse aus der Vertikale ver-
schoben wird. Damit wird die dynamische Gestaltung, d. h. die Bewe-
gungsdarstellung, erreicht. Es ist auch zweifellos zutreffend, wenn Baku-
sinskij die illusionistische oder, wie ich hier sagen möchte, die ausdeh-
nungsveränderliche Seh- und Vorstellungsweise als Voraussetzung dieses
Ablaufs hinstellt. Hinzuzufügen wäre nur, daß sie sich mit einem außer-
ordentlich lebendigen Einfühlungsvermögen in die Körperhaltung ver-
einigen muß, damit eine höhere, wahrhaft künstlerische bildnerische Be-
tätigung im Jugendalter daraus hervorgehen kann. Daß solche Leistun-
gen bei der Durchschnittsbegabung, die doch meist über mehr oder weni-
ger hinreichend klare Sehvorstellungen verfügt, vielleicht noch seltener

10) Einen Beleg dafür konnte auch ich a. a. O. S. 142 u. Abb. 126 feststellen.
 
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