KERNFRAGEN DER KINDERKUNST.
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vorkommen als gleichwertige zeichnerische, dürfte eben hauptsächlich
auf dem Mangel eines so feinen Körpergefühls beruhen.
Es liegt auf der Hand, daß die rein visuelle Vorstellungsweise auf die
einansichtige Reliefgestaltung eine stärkere Rückwirkung üben muß, da
die Zeichnung dem Relief seine Gestaltungsgesetze vorschreibt11). Auf
dieser Entwicklungsstufe hat das, wie Bakusinskij ausführt, zunächst
zur Folge, daß sich die Profilsilhouette gegen die frontale und gemischte
Ansicht durchsetzt, des weiteren aber, daß die anfangs nur zwischen den
beiden Grenzflächen parallel zu ihnen sich entfaltende Bewegung nach
vorn die Bildebene durchbricht, nach hinten aber durch illusionistische
(perspektivische) Gestaltung der Grundebene in den Bildraum eingeht.
Hand in Hand damit gewinnt das Helldunkel an Bedeutung für den opti-
schen Aufbau der Form bis zur Unterwerfung, Zersetzung und schließ-
lich sogar malerischen Auflösung der Masse. Damit sind in der Tat alle
Gestaltungsmöglichkeiten des Reliefs summarisch umschrieben. In der
künstlerischen Betätigung des Halbwüchsigen und des Jugendlichen fin-
den sie freilich im allgemeinen keine Verwirklichung. Bakusinskij, der
das ausdrücklich feststellt, begründet diesen Ablauf vielmehr auf Selbst-
beobachtung seines eignen frühesten Schaffens. Ich möchte jedoch zum
mindesten in Frage stellen, ob diese bis zur äußersten Möglichkeit im-
pressionistischer Reliefgestaltung ausgereift wäre, wenn es sich nicht in
einer die letzten malerischen Illusionswirkungen anstrebenden und er-
zwingenden künstlerischen Umwelt abgespielt hätte. Daß aber einzelne
von diesen Errungenschaften optischer Reliefgestaltung (wie die Ver-
kürzung) sogar schon dem halbwüchsigen Alter in Ausnahmefällen hoher
Sonderbegabung erreichbar sind, konnte ich selbst (a. a. O. S. 278 f.) in
einem Falle feststellen. Wo das Relief im Kunstunterricht gepflegt wird,
mögen sich solche Gegenbeispiele, auf die sich auch Bakusinskij beruft,
wohl vermehren lassen.
In der Erklärung der Tatbestände der zeichnerischen und bildnerischen
Entwicklung hat sich somit eine fast durchgängige Übereinstimmung zwi-
schen Bakusinskijs und meiner unabhängig voneinander erarbeiteten Auf-
fassung der Vorgänge der inneren und äußeren Gestaltung ergeben. Denn
daß auf der letzten das Jugendalter mit einschließenden Entwicklungs-
stufe die (ausdehnungsveränderliche) Sehform in der Zeichnung und
Reliefgestaltung die Führung gewinnt, habe auch ich nie verkannt. Was
aber Bakusinskij die visuell-motorische Einstellung nennt, ist im Grunde
nichts anderes, als was ich unter dem Begriff der Sehvorstellung ver-
stehe, nur nehme ich eine auf fester funktioneller Verflechtung des moto-
rischen mit dem sensorischen Gedächtnis beruhende Vorstellungsbildung
J1) Wulff, Grundlinien u. krit. Erört. usw. S. 43 f. u. Zeitschr. f. Ästh. 1922.
S. 93 f.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXVI. r
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vorkommen als gleichwertige zeichnerische, dürfte eben hauptsächlich
auf dem Mangel eines so feinen Körpergefühls beruhen.
Es liegt auf der Hand, daß die rein visuelle Vorstellungsweise auf die
einansichtige Reliefgestaltung eine stärkere Rückwirkung üben muß, da
die Zeichnung dem Relief seine Gestaltungsgesetze vorschreibt11). Auf
dieser Entwicklungsstufe hat das, wie Bakusinskij ausführt, zunächst
zur Folge, daß sich die Profilsilhouette gegen die frontale und gemischte
Ansicht durchsetzt, des weiteren aber, daß die anfangs nur zwischen den
beiden Grenzflächen parallel zu ihnen sich entfaltende Bewegung nach
vorn die Bildebene durchbricht, nach hinten aber durch illusionistische
(perspektivische) Gestaltung der Grundebene in den Bildraum eingeht.
Hand in Hand damit gewinnt das Helldunkel an Bedeutung für den opti-
schen Aufbau der Form bis zur Unterwerfung, Zersetzung und schließ-
lich sogar malerischen Auflösung der Masse. Damit sind in der Tat alle
Gestaltungsmöglichkeiten des Reliefs summarisch umschrieben. In der
künstlerischen Betätigung des Halbwüchsigen und des Jugendlichen fin-
den sie freilich im allgemeinen keine Verwirklichung. Bakusinskij, der
das ausdrücklich feststellt, begründet diesen Ablauf vielmehr auf Selbst-
beobachtung seines eignen frühesten Schaffens. Ich möchte jedoch zum
mindesten in Frage stellen, ob diese bis zur äußersten Möglichkeit im-
pressionistischer Reliefgestaltung ausgereift wäre, wenn es sich nicht in
einer die letzten malerischen Illusionswirkungen anstrebenden und er-
zwingenden künstlerischen Umwelt abgespielt hätte. Daß aber einzelne
von diesen Errungenschaften optischer Reliefgestaltung (wie die Ver-
kürzung) sogar schon dem halbwüchsigen Alter in Ausnahmefällen hoher
Sonderbegabung erreichbar sind, konnte ich selbst (a. a. O. S. 278 f.) in
einem Falle feststellen. Wo das Relief im Kunstunterricht gepflegt wird,
mögen sich solche Gegenbeispiele, auf die sich auch Bakusinskij beruft,
wohl vermehren lassen.
In der Erklärung der Tatbestände der zeichnerischen und bildnerischen
Entwicklung hat sich somit eine fast durchgängige Übereinstimmung zwi-
schen Bakusinskijs und meiner unabhängig voneinander erarbeiteten Auf-
fassung der Vorgänge der inneren und äußeren Gestaltung ergeben. Denn
daß auf der letzten das Jugendalter mit einschließenden Entwicklungs-
stufe die (ausdehnungsveränderliche) Sehform in der Zeichnung und
Reliefgestaltung die Führung gewinnt, habe auch ich nie verkannt. Was
aber Bakusinskij die visuell-motorische Einstellung nennt, ist im Grunde
nichts anderes, als was ich unter dem Begriff der Sehvorstellung ver-
stehe, nur nehme ich eine auf fester funktioneller Verflechtung des moto-
rischen mit dem sensorischen Gedächtnis beruhende Vorstellungsbildung
J1) Wulff, Grundlinien u. krit. Erört. usw. S. 43 f. u. Zeitschr. f. Ästh. 1922.
S. 93 f.
Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft. XXVI. r