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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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Cassirer, Ernst: Goethe und das achtzehnte Jahrhundert
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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0149
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GOETHE UND DAS ACHTZEHNTE JAHRHUNDERT.

notwendig verkümmern lassen mußten. Wie Boileau von den Zeitgenossen
zum „Gesetzgeber des Parnaß" erhoben worden war, so sieht Goethe in
Linne und seinen Nachfolgern die Gesetzgeber der Pflanzenwelt — aber
er hält diesen Gesetzgebern entgegen, daß sie weniger bekümmert ge-
wesen seien um das, was ist, als um das, was sein sollte; daß sie
„keineswegs die Natur und das Bedürfnis der Staatsbürger beachtet
hätten, sondern vielmehr die schwere Aufgabe zu lösen bemüht waren,
wie so viele unbändige, von Haus aus grenzenlose Wesen, wie die Pflan-
zen, zusammen einigermaßen bestehen könnten"1). Dieser rationalen
Disziplin, die auf Zusammenfassung und Vereinfachung, auf gene-
rische Reduktionen drängt, stellt Goethe die Forderung der Konkretion
der Individualisierung, der lebendigen Anschauung entgegen. Ihm fehlte,
der Fülle dieser Anschauung gegenüber, der Mut, „irgendwo einen Pfahl
einzuschlagen oder wohl gar eine Grenzlinie zu ziehen. Dergleichen Be-
handlung erschien mir immer als eine Art von Mosaik, wo man einen
fertigen Stift neben den anderen setzt, um aus tausend Einzelheiten
endlich den Schein ein Bildes hervorzubringen; und so war mir die
Forderung in diesem Sinne gewissermaßen widerlich". Goethe fühlte den
inneren Mangel solcher Scheinbilder unmittelbar, wenn er sie jenen
anderen Bildern verglich, die ihm unablässig aus dem Grund und Mittel-
punkt seines dichterischen Schaffens zuströmten, und die sich, bei aller
Bestimmtheit stetig wandelten und in lebendigem Fluß erhielten. Und
deshalb erklärt er, daß es ihm als „geborenem Dichter" nicht möglich
gewesen sei, die Pflanzenwelt mit den Augen Linnes zu sehen2). Auch
von der Natur vermag Goethe nur das zu sehen, was er mit seinem eige-
nen Lebensprozeß in Beziehung setzen, und was er aus ihm heraus sich
deuten und verständlich machen kann. Und so bekämpft er denn auch
hier keine Vorstellung so scharf und unablässig, wie die Vorstellung der
„Komposition". Die Natur komponiert so wenig wie das Genie kompo-
niert. Sie setzt nicht aus getrennten, selbständig bestehenden Teilen zu-
sammen, sondern sie ist ein einheitlicher schöpferischer Prozeß, der sich
in sieh selbst trennt, der sich stetig spezifiziert. Wir dürfen in ihr keine
Schranke annehmen, als diejenige, die sie in dieser Weise sich selbst setzt.
Alle Begrenzung ihrer Formen erfolgt von innen aus und ist von innen
her determiniert; alles „Gesonderte" besteht nicht an sich, sondern ist
aus fortschreitenden Akten der Besonderung zu erklären. In dieser
Grundanschauung ist Goethes Lehre von der Metamorphose der Pflan-
zen implizit beschlossen. Auch die Urpflanze war ihm eine „symbolische

!) Geschichte meines botanischen Studiums, Erste Fassung, s. Naturw. Schrif-
ten, Weim. Ausg. 6, 394.

") Geschichte meines botanischen Studiums, Naturw. Schriften VI, 116 f.
 
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