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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0214
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BESPRECHUNGEN.

zeiten" voii einander und bringt sie als Fortwirkungen antiker Vorstellungen in
ihrer olympisch-rationalen und in ihrer dämonisch-irrationalen Gestalt in ge-
danklich-historischen Zusammenhang. Beide zielen auf Erlösung der leidenden
Menschheit und ersehnen Verwirklichung des Ideals menschlicher Gemeinschaft.
Für die Bildprojektion eines Wunschraums auf eine imaginäre Fläche hat Thomas
Morus in der Utopia die klassische Form gefunden, für chiliastische Träume der
„Oberrheinische Revolutionär" in seiner wenig bekannt gewordenen Schrift. Diese
Versuche aus dem Zeitalter der Renaissance haben eine lange Ahnenreihe. In
großen Zügen zeichnet Dören die Vorgeschichte beider Gattungen nach, für die
räumliche Reihe von der griechischen Antike an, für die zeitliche seit dem Beginn
ihrer weltgeschichtlichen Wirksamkeit im Judentum, besonders bei Daniel. Drei Ge-
dankenkreise hat die Spätantike dem Mittelalter übergeben: 1. die sichere Er-
wartung eines tausendjährigen Reiches, 2. die Hoffnung auf einen Helden der
Endzeit, 3. die Idee einer bestimmten Abfolge der Zeiten und der Weltreiche. Auch
von der Annäherung, Verschmelzung, Trennung der Utopien und Chiliasmen im
Laufe ihrer Entwicklung von der Renaissance bis zu uns entwirft D. ein anschau-
liches Bild. Campanellas Sonnenstaat, durch eine tiefe Kluft von Morus' Utopia
geschieden, wird als eine Art Vorbote der Wendung zum Rationalismus der Auf-
klärungszeit betrachtet, andererseits wird seine Wirkung auf den protestantischen
Pietismus von Spener und Beugel knapp umrissen. Auch die Wunschbilder idealer
sozialer Zustände im „utopischen" Sozialismus französischer Herkunft tauchen auf.
Das Bedeutsame für die Entwicklung in der jüngsten Vergangenheit und Gegen-
wart sieht D. darin, daß der bescheidenere Strom utopischer Hoffnungen in dem
mächtigeren des chiliastischen Glaubens aufgeht, die Wunschzeit also den Wunsch-
raum völlig in sich aufnimmt. Dieser Vorgang gelangt zum Abschluß im Marxis-
mus, der an die Stelle eines welterlösenden Helden der Endzeit die Masse der Be-
drückten setzt und darin, wie in der Bindung einer Verwirklichung des Wunsch-
reichs an vermeintliche exakte Naturgesetze seine Stoßkraft besitzt. —■ „Litera-
rische Verwendungen des Beispiels" wurzeln nach Franz Dorn-
sei f f in dem „Sinn des Menschen für Gleichförmigkeiten in der Welt" (206) und
in dem Bedürfnis, sich ihrer innezuwerden. „Zwischen Beispiel und umgebendem
Text kann eine Anzahl verschiedener Relationen bestehen, genau wie, je nach dem
Saeculum und sonstigen Voraussetzungen, die Menschen aus verschiedenen Gründen
etwas bildnerisch darstellen" (224). Innerhalb der antiken und der von ihr be-
einflußten Literatur und bildenden Kunst tritt das Beispiel auf in verschiedenen
Funktionen: als logische Analogie, als Zaubermittel, als literarisch-künstlerischer
Schmuck, als Vorbild, als allegorisch-typologischer Spiegel. Diese Behauptung wird
erhärtet durch einen Überblick über die einzelnen Gattungen griechischer Dich-
tung und gelegentliche Hinweise auf parallele Erscheinungen in der bildenden
Kunst (215, 219, 222, 224). Analogiezauber und animierender Präzedenzfall werden
in der entwickelten griechischen Chorlyrik abgelöst durch Beispiel, Parallelfall,
Ruhmestitel, Lobpreis. Der Übergang zum Beispiel als Bild und Vorbild erfolgt
in der Rhetorik, die den alten Formen griechischer Poesie nachgeht und in ihrer
Anwendung eindringlicher Beispiele bis in die Predigt im protestantischen Gottes-
dienst nachwirkt. Die antiken Rhetoriker zuerst legen Beispielsammlungen an und
vererben sie dem Mittelalter und der humanistischen Rhetorik der Renaissance- und
Barockzeit. Sie sind mit schuld daran, wenn man „bis zum Aufkommen der neuen
organischen entwicklungsgeschichtlichen Auffassung" durch Vico, Montesquieu,
Herder (221) die ganze Geschichte als Vorratskammer von Beispielen betrachtet,
und so nur angewandte Geschichte treibt. In Spätantike und Mittelalter kehrt der
 
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