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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 26.1932

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https://doi.org/10.11588/diglit.14167#0220
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206

BESPRECHUNGEN.

von ihr nicht ein so reines Bild haben, daß wir imstande sind, sie unmittelbar auf
ein Blatt Papier oder auf eine Schiefertafel zu zeichnen?" (S. 10.) Und das soll
Künstlertum sein! Kein Wunder, daß Geschmack und Genie „substantiell identisch"
genannt (S. 128), daß anschauliche Erkenntnis und schöpferische Tätigkeit in eins
gesetzt werden und daß sogar die erstaunliche Behauptung gewagt wird: „Die in-
tuitive oder künstlerische Genialität ist wie jede andere Form der menschlichen
Aktivität immer bewußt" (S. 17). — Wird hier der springende Punkt überhaupt
nicht gesehen, so wird an einer andern Stelle des vorhin entwickelten Hauptgedan-
kens das Problem zwar bemerkt, aber sogleich abgetan. Es handelt sich darum,
daß ein einzelnes und eigenes Kunstwerk Ganzheit und Allgemeinheit in sich
schließt. Dazu meint Croce lediglich, das Ganze sei im Leben des Einzelnen, das
Allgemeine sei ein individualisiertes Allgemeine u. dgl. m., anstatt diesen Zusammen-
hang näher zu untersuchen. Wie sollte er es auch tun, da ihm das Verhältnis des
Einzelnen zum Allgemeinen überhaupt unklar geblieben ist? Scheinbar sind ihm
Husserls „Logische Untersuchungen" und die vielen Arbeiten entgangen, die sich
an sie knüpften. „Folgendes sind Intuitionen: dieser Fluß, dieser See, ... und folgen-
des sind Begriffe: das Wasser ... schlechthin ..." (S. 24). Begriffliches Denken
wäre demnach bei der Wahrnehmung eines Flusses ausgeschaltet!

Die Folgerung hieraus ist, daß es keinerlei Gesetze der einzelnen Künste geben
soll. Die künstlerischen und literarischen Gattungen sind nur Gruppierungen, aus
den praktischen Bedürfnissen der Bequemlichkeit entstanden (S. 42). Weder Drama
noch Roman haben ihre eigenen Regeln; auch die bekannte Tatsache, daß eine neue
Formgebung von einem bestimmten Künstler gefunden und dann von vielen andern
Künstlern verwendet wird, scheint ebenso wie der Formtypus „Drama" oder
„Roman" eine Einbildung der Ästhetiker zu sein. (Vgl. S. 119 ff.) Croce verwirft
jede Theorie der einzelnen Künste, leugnet jeden „Übergang vom physischen Fak-
tum zum ästhetischen Faktum" und behauptet, daß die Begriffe von Raum und Zeit,
Ruhe und Bewegung überhaupt nichts mit Kunst zu tun haben. Es gibt keine Poe-
tik, keine Musikästhetik, überhaupt keine Systematik der Kunst, sondern lediglich
eine Geschichte der Kunst. Aber auch diese sieht bei Croce sonderbar aus. Denn
sie wäre im besten Fall eine Erzählung von den Intuitionen, die es wirklich ge-
geben hat, eine Folge einzelner Charakteristiken. Da Kunstwerke Anlässe sind, um
Intuitionen von neuem hervorzurufen, so ist alles Reden von objektiven Bedingun-
gen des ästhetischen Wertes ein abergläubisches Geschwätz („Astrologie der Ästhe-
tik"). Das ästhetische Urteil besteht in der Wiederholung des künstlerischen Schaf-
fens und ist nur möglich mit Hilfe der philologischen und geschichtlichen Ausle-
gung. Hans Feist gibt dieser den Tatsachen grob widersprechenden Ansicht den
folgenden Ausdruck: „Die historische Kritik in der Kunst- und Literaturgeschichte
erhält damit ihren hervorragenden Platz zugewiesen, denn ohne sie würde der Ge-
nuß fast aller Kunstwerke unwiderruflich verloren gehen" (S. XXI, vgl. S. 137).
Man sieht, wie alles, was uns wichtig scheint, als Unsinn abgetan wird: der un-
befangene Genuß der Kunst, die systematische Forschung, die allgemeine Kunst-
wissenschaft, schließlich auch die ganze Fülle der ästhetischen Grundformen. Vom
Tragischen, Komischen usw. meint nämlich Croce, das seien Begriffe, die in die
Psychologie gehören, aber nichts mit Philosophie und Ästhetik zu tun haben (S. 94).
Übrig bleibt die Schönheit als reine Intuition oder Expression und Ästhetik als Wis-
senschaft der expressiven Aktivität. —

Der zweite Teil des Buches, doppelt so groß wie der erste, enthält eine „Ge-
schichte der Ästhetik". An ihr ist zu rühmen, daß sie aus den Quellen gearbeitet
 
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