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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 27.1933

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Strauß, Ernst: Über einige Grundfragen der Ornamentbetrachtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14172#0060
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BEMERKUNGEN.

gäbe beruht, sich durch die Jahrhunderte halten und speziell im Norden eine
ununterbrochene Umbildung erfahren können? Die Gründe dafür mußten doch
viel tiefer liegen und dürften viel eher in der fast unbegrenzten ornamentalen Ver-
wendbarkeit zu suchen sein, die der Akanthus durch seine, den allerverschiedensten
Ausdrucksbedürfnissen gefügigen formalen Möglichkeiten bot. —

Ein weiteres Argument gegen die Berechtigung naturalistischer Deutungsweise
liegt darin, daß die Naturformen im Ornament, in erster Linie die pflanzlichen,
selbst da, wo sie eine große Naturnähe erreichen, sich doch nur in wenigen Fällen
mit den realen Formen der Natur decken, und daß vielfach die Forschung sich
genötigt sieht, sich mit annähernd zutreffenden Pflanzenbezeichnungen zufrieden zu
geben (Beispiel: der Ausdruck „Arazeen" für eine bestimmte Gattung der antiken
Pflanzenornamentik). — Aber der Vorzug der Benennbarkeit einer Naturform im
Ornament kann doch nur ein sehr zweifelhafter sein, wenn man beobachtet, daß,
wie z. B. auf griechischen Gefäßen, ein Ölbaum annähernd naturnahe, unmittelbar
daneben aber eine aufsteigende Palmettenranke dargestellt ist, oder irgendein deut-
scher Ornamentstecher des späten 16. Jahrhunderts das Porträt einer Blume neben
einem völlig „undefinierbaren" Gewächs darstellt, ohne daß im geringsten der
Eindruck der inneren Einheitlichkeit des Ornaments darunter litte. Und diese Beob-
achtungen treffen natürlich durchaus nicht nur auf die pflanzliche Natur, sondern
ebenso auf alle Elemente zu, die aus der wirklichen uns umgebenden Natur in das
Ornament eingegangen sind. Eine befriedigende Erklärung kann nur darin gefunden
werden, daß die Vorstellungsform im ornamentalen Schaffen immer die primäre ist,
die Anschauungsform die sekundäre, daß ein Naturgebilde im Orna-
ment niemals dargestellt, sondern immer gemeint ist. Es ist Anweisung,
keine Wiedergabe. Das bedeutet aber, daß dem Ornamente allein, im Gegensatz zu
den darstellenden Künsten, die Möglichkeit gegeben ist, die Natur jederzeit zu
entstofflichen, die Entwicklungsgrade der Naturbildungen in ganz verschiedenem
Maße beliebig zurückzuschrauben und sie, da sie einem gemeinsamen Urzustand
somit nähergerückt sind, beliebig miteinander zu verknüpfen, ohne daß unser natür-
liches oder künstlerisches Empfinden verletzt würde.

Ist man sich erst darüber im klaren, daß die beiden Grundelemente aller Orna-
mentik, die eine, die man notgedrungen die „abstrakte" nennt — als Hauptbeispiele
nenne ich das Bandwerk des Nordens und seine verwandten Ornamentarten
(Beschlagwerk) — und die andere, sogenannte naturalistische (wofür wir an die
Pflanze als an das nächstliegende Motiv denken), — daß diese beiden Grund-
elemente nicht getrennt sind, sondern ihre gemeinsame Wurzel in der Vorstellung,
nicht in der Anschauung besitzen, höchstens in entwickelten Perioden der Orna-
mentik durch die Anschauung gespeist werden können, erst dann beginnt die Be-
trachtung des Ornaments auch in seiner geschichtlichen Entwicklung über das rein
Formale hinaus ergiebig zu werden. So lehrt uns die Ornamentgeschichte z. B. als
einen durchgehenden Unterschied zwischen romanischer und nordischer Anschau-
ung, daß die Grenzen zwischen gegenständlicher und nicht gegenständlicher Orna-
mentik ganz verschieden liegen. Im Süden sind sie im Grunde immer eingehalten;
selbst in spätmanieristischer Zeit wird z. B. ein italienischer Rankenfries oder eine
Kartusche mit Figuren immer noch so gegeben, daß die Ranke Ranke bleibt, die
Figur Figur (vgl. Berliner Taf. 201 f., für das 17. Jahrhundert vor allem die
Stiche des Stefano della Bella). Bis in die späteste Barockzeit bleibt in Italien
das Verhältnis des figürlichen zum pflanzlichen Elemente im Grunde genau das
gleiche wie im Hellenismus, der zum ersten Male Figur und Ranke kombinierte.
Niemals wird in Italien außer in der verhältnismäßig kurzen manieristischen Epoche
 
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