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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Mutius, Gerhard von: Das Kunstwerk als Vorbild
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0125

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DAS KUNSTWERK ALS VORBILD

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wandeln, ist dies unsere eigene Stimme, unser lebendiger Wunsch und
Entschluß geworden.

Wir können uns kaum davon Rechenschaft geben, welche ungeheure
Rolle gerade in der unzugänglichen Heimlichkeit unseres eigensten
Lebens — auch bevor wir sie eigentlich erkennen und benennen können —
die „Bilder" spielen. Das Bild ist jeweils eine erste Zusammenfassung
unseres Sinnenlebens, ein Versuch aus dem Wechsel aufzutauchen und
zu Dauer und Einheit, zu Ordnung zu gelangen. Das Bild ist — da wir
aus der Welt nicht herausfallen können — zunächst Nach bild, eine Zu-
sammenfassung und Ordnung von Gegebenheiten, die sich unserer all-
gemeinen Situation entsprechend unter praktischem Gesichtspunkt voll-
zieht. Aber schon in dieser Zusammenfassung schlummert, beständig
bereit zu erwachen, das Vorbild; denn aus der Ergriffenheit heraus
steigert sich der Eindruck und wird zum Gefäß unserer Wünsche, zum
Wunschbild, das nun wieder als Lebensreiz auf das Ganze unseres
Wesens zurückwirkt. Das Vorbild aber ist nicht Material praktischer
Bewältigung, sondern Lockung zur Anbildung, zur Anähnlichung, un-
interessiertes Interesse.

Im Bereich menschlichen Zusammenlebens ist das Vorbild vielleicht
dessen feinste Blüte. Es setzt innigste menschlichste Verbundenheit vor-
aus und meint doch nicht die Herde, sondern den Einzelnen. Der Mensch
steht seinem eigenen Wesen als ein unablässig Gestaltender gegenüber.
Vielleicht ist er sich im Grunde nur als Aufgabe selber erträglich. An-
dererseits muß er sich als Naturwesen auch bejahen, in dieser Bejahung
seine Gegenwart erfüllen, sein eigenes Fleisch und Blut lieben. Beides
fließt im Vorbild zusammen. Das Schöne und das Gute, Sinnenglück und
Seelenfrieden, Menschen- und Gottesliebe haben sich gefunden.

Dieselben geheimen Kräfte des Vorbildes bauen das Kunstwerk. Auch
alle Kunst kann zunächst nur nachbilden, Erfahrungsgegebenheiten
irgendwie mit ihren Mitteln und Ausdrucksmöglichkeiten wiederholen.
Nach dieser Richtung weist, was man den Inhalt, den Gegenstand des
Kunstwerks nennt, seine Benennung. Die Steigerung zum Reiz, der den
Lebensinstinkt in seiner Tiefe wachruft, erfolgt dagegen wesentlich durch
die künstlerische Form. Darum ist das Vorbildliche im Kunstwerk als
solches meist nicht benennbar. Wo aber die künstlerische Form, die ja
nur Ausdruck einer besonderen Liebe sein kann, das Bild des Menschen
selber ergreift und gestaltet, wird die künstlerische Steigerung in der
menschlichen benennbar. Form und Inhalt sind beinahe dasselbe ge-
worden.
 
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