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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Mutius, Gerhard von: Amarna
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0174

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BEMERKUNGEN

Genialität auf den ägyptischen Thron gedrungen, die in der Religionsgründung
Amenophis IV. ebenso wie in den künstlerischen Dokumenten dieser Periode, dem
sogenannten Amarnastil, ihren Ausdruck gefunden hat. Genialität aber bedeutet allem
Durchschnittlichen und Sozialen gegenüber höchste individuelle Zuspitzung. Der
geniale Mensch schöpft seine Produktivität aus der einsamen Zwiesprache mit dem
Universum.

Wenn wir den mächtigen Widder aus Granit mit der goldenen Sonnenscheibe
zwischen den Hörnern sehen, den Amenophis III. dem führenden Gotte der Volks-
religion „Amun" geweiht hatte — es ist nur ein Stück aus einer ganzen Allee von
Widdern —, so wird er uns zu einem wundervollen Bild jener geschlossenen sozialen
Form, die das politisch und kriegerisch vordringende Ägypten damals gehabt haben
muß. Schon im Material spricht sich der Wille zur Dauer aus. Die religiösen und
politischen Kräfte erscheinen hier noch in untrennbarer Verbindung. Die Religion
rechtfertigt und verklärt den Staat, und der Staat vertritt seine Religion. Dieser
Widder Amenophis III. repräsentiert so recht die gefestigte Orthodoxie staatlicher
und religiöser Gesinnung. Er ist aber auch ein Symbol für die Schönheit und Kraft,
die ein geschlossenes soziales Gebilde ausstrahlt. Auf diese Art von Erfüllung, das
Aufgehen in einem sozialen Ganzen mit Abschließungstendenz nach außen, ist der
Mensch offenbar zunächst von der Natur angelegt, und mit dem größeren Teil
unseres Wesens können wir gar nicht anders, als diesem Imperativ folgen. Wie
bewundern geprägte Völkertypen, festgefügte Staatswesen, alle geschlossenen und
damit auch exklusiven Kulturen.

Und doch ist auch dies nicht das letzte Wort, das die mütterliche Natur uns
zu sagen hat. Sie weiß noch um ein größeres Geheimnis ihrer eigenen Schöpferkraft
und legt dies in die Produktivität des Einzelmenschen, der dadurch zum Vertreter
einer höheren Natur, zum höheren Vertreter der Natur auch der geschlossenen
sozialen Gruppe gegenüber wird. Zwar lebt im Grunde auch die geschlossene soziale
Form von jenem Überschuß, den der Einzelmensch gegenüber einer insektenhaften
sozialen Arbeitsteilung darstellt. Denn auch die soziale Funktion kann von dem
Einzelnen immer nur in leicht abgewandelter Form nach Maßgabe seiner besonderen
Anlagen und Neigungen erfüllt werden. Sonst gäbe es keine menschliche Geschichte,
deren treibendes Prinzip durchaus auf jener individuellen Zuspitzung der mensch-
lichen Produktivität beruht. In dem genialen Einzelmenschen aber wird der schöpfe-
rische Vorstoß der Natur über alles bereits sozial Erreichte, Zuständliche hinaus
sozusagen isoliert, als Einzelerscheinung sichtbar. Oder vielmehr diese an sich stets
heimlich und verborgen bleibende Kraft bildet, wenn sie soziale Resonanz findet, den
Mythus vom großen Einzelmenschen.

Amenophis IV. werden wir Genialität auf keinen Fall absprechen können. Ob er
als großer Mann im Heroensaal der Weltgeschichte gelten soll, hängt davon ab,
welcher Maßstab angelegt wird. Während seiner eigenen Regierungszeit galt er
vermutlich weithin dafür, da aber seine Religionsgründung sein Leben nur wenig
überdauert hat und von einer heftig einsetzenden Reaktion bald wieder vernichtet
wurde, mußte er im Bilde späterer Zeiten eben zum „Ketzerkönig" werden. Er war
seiner Zeit und seinem Volke zu weit voraus, als daß sie ihm hätten folgen können.
Aber gerade sein politischer Mißerfolg, das sozusagen Unvollendete seiner ge-
schichtlichen Gestalt, macht sie auch für uns Heutige noch zu einem lebendigen
Ansatz, zu einem noch nicht voll eingelösten Versprechen. Seine Mängel sind die
Bedingungen seiner besonderen Bedeutung und umgekehrt.

Der Amarnastil spiegelt etwas wie einen neuen Ansatz zum Leben, als dessen
Wurzel wir eine persönliche religiöse Ergriffenheit und Genialität des Königs selber
 
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