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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 33.1939

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Mutius, Gerhard von: Amarna
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https://doi.org/10.11588/diglit.14216#0175

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BEMERKUNGEN

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zu ahnen glauben. Charakteristisch für den Amarnastil ist in den überkommenen
Porträts besonders die Betonung des Mundes und des Auges im menschlichen Ge-
sicht. Ein mit dem Rausch der Sinne sich verbindender Rausch des Geistes scheint
in der Amarnakunst auszustrahlen. — Das alles mutet uns manchmal als schwüler
und ekstatischer Orient an und ist jedenfalls weit entfernt von dem Griechentum und
dem in der griechischen Plastik eigentlich durch alle Phasen ihrer Entwicklung sich
behauptenden Kultus des Normalen, Gesetzmäßigen, Gesunden. Wenn wir z. B. auf
den herrlichen Torso der Berliner Sammlung blicken, der als antike Kopie nach dem
Doryphoros des Polyklet bezeichnet wird, so fällt einem sofort das Goethewort ein:
„Alles Willkürliche, Eingebildete fällt da zusammen. Da ist die Notwendigkeit, da
ist Gott." — An diesem Maßstab gemessen könnte man in dem Amarnastil etwas
Krankhaftes finden. Aber wäre er mit einem solchen Urteil erledigt? — Gibt es in
der Natur ein isoliert Krankes oder Gesundes? Durchdringen sich im lebendigen
Menschen nicht Krankheit und Gesundheit immer wechselseitig? — Ist es nicht die
Tiefe und der Adel der Krankheit, daß wir in ihr lebendig erfahren, was uns fehlt,
daß sie unser Wesen stärker auf das Ganze, das Unendliche spannt?! Daß also in
ihr ein neuer Lebensauf trieb, eine neue Gesundheit schlummert?! Bedeutet Goethes
Wort von der „Produktivität des Unzulänglichen" nicht in der Umkehrung auch
eine gewisse Unfruchtbarkeit des Normalen, die „Melancholie alles Fertigen"?!

König Amenophis IV. wird von einigen heutigen Betrachtern als ein Ausbund
von Häßlichkeit empfunden. Seine Körperformen haben auf den vorhandenen Relief-
darstellungen wenig von männlicher Kraft und Gesundheit, sondern einen Zug ins
Weibliche, Sinnliche, Schlaffe. Beim König wie bei seinen Angehörigen begegnen wir
vielfach einer eigentümlich stilisierten Kopfform, die fast wie die Glorifizierung einer
Anomalie anmutet. In dem Realismus des Amarnastils glaubt man manchmal eine
Freude zu spüren, gerade die bisherigen konventionellen Schönheitsvorstellungen
zu durchbrechen. Aber dieser Realismus ist, trotzdem er sich selber als Dienst
der Wahrheit empfindet (der König wird derjenige genannt, der von der Wahrheit
lebt), doch vor allem Lebens- und Gefühlssteigerung, die durch eine besondere
„Eigenschönheit der Linie" zusammengehalten und sozusagen aus einem neuen
Prinzip heraus idealisiert wird. Der Amarnastil zeugt von einer besonderen Lebens-
intensität und hat seine eigene nicht vergleichbare Schönheit.

Der vom König ausgehende religiöse Durchbruch war dazu angetan, sozusagen
dem neu gegründeten Weltreich auch einen besonderen Gehalt, eine neue raison
d'etre zu geben. Sollten diese Länder wirklich zusammenwachsen, so mußte auch
die isolierende Lokalreligion Ägyptens noch überwunden werden und ein erweitertes
Lebensgefühl an seine Stelle treten. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die reli-
giöse Reform und Neugründung des Königs Amenophis IV. keineswegs als un-
politisch. Ähnlich wie später das römische Weltreich zu einer geschichtlichen Be-
dingung für die Entwicklung des Christentums wurde, hat auch die Ausweitung der
ägyptischen Herrschaft bei der Entstehung der Amarnareligion mitgewirkt, ohne
daß etwa die Absicht ihres Stifters irgendwie ins Politische umgedeutet werden
dürfte. Wenn wirklich in der Amarnazeit ein Rausch der Sinne und ein Rausch des
Geistes als besonderes Wechselspiel gegenseitig sich befruchtender Kräfte vor uns
steht, so ist sie gerade in dieser ihrer Selbstgenügsamkeit, ihrer reinen Gegenwart
als unpolitisch charakterisiert. Es liegt aber nicht so, als ob menschliche Dinge nur
an politischem Maßstab zu messen wären. Der Mißerfolg dieser Religions grün-
d u n g sagt noch nichts gegen die Amarnareligion selber. Auch die Kulturblüten
des alten Griechenland, der italienischen Renaissance, der klassischen deutschen
Literatur verlieren dadurch nichts an ihrem Eigenwert, daß sie mit politischen Ver-

Zeitschr. f. Ästhetik u. allg. Kunstwissenschaft XXXIII. H
 
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