EWIGE ARCHAIK
15
Bemühungen um eine Raumdarstellung ohne Beziehung auf einen Be-
schauerstandpunkt, also ohne Zentralperspektive — sowohl die spätere
Antike wie das spätere Mittelalter und auch Ostasien gehören hierher. Erst
danach kommt die hochabendländische Raumdarstellung mit Illusions-
Zentralperspektive, die zugleich eine neuartig harmonisierende Funktion
ausübt. Wir werden erkennen, daß der zweiten Stufe das entspricht, was
wir die präharmonische Mehrstimmigkeit im späten Mittelalter nennen,
während die dritte offensichtlich mit dem zusammengeht, was in der Musik
zu der neuzeitlichen Dreiklangsharmonik hinführt, sei sie mehrstimmig
oder homophon. Danach würde naheliegen, was sich schon ohnehin der
Betrachtung aufdrängen möchte: daß nämlich der „Einschichtigkeit" im
flächenhaften Gestalten die Einschichtigkeit des einstimmigen Musizierens
entspricht, das ja zugleich auch das eigentlich „naturistische" ist. In der
Tat ist der Tonkunst der primitiven Völker wie der archaischen Kulturen
— seien sie nun ewig oder nur Durchgangsstufe, wie bei den Griechen —
die Mehrstimmigkeit im Ganzen fremd. Nur bei einigen wenigen Natur-
völkern sind Quinten- und Quartenparallelen (ähnlich dem mittelalterlichen
Parallelorganum) nachzuweisen oder ein dudelsackartiger Orgelpunkt;
die Harfenmusik der alten Chinesen, Ägypter und Sumerer läßt tatsächlich
eine gewisse Akkordstützung vermuten, und in derGamelanorchestermusik*
von Java und Bali glauben wir bisweilen in der farbigen Tonwolke des
Ganzen abendländischen Dreiklangsvorstellungen nahezukommen. Außer
diesem gelegentlichen Antasten der durch den Zeitimpuls gesetzten Grenzen
kann es sich nur um das handeln, was man Heterophonie genannt hat,
ein Umspielen der Kernmelodie, kein eigentlicher Kontrapunkt oder har-
monischer Satz.
Auch auf der neuen christlich-nachantiken Stufe beginnt die Entwick-
lungskurve mit neuer Einstimmigkeit, und im 16. und 17. Jahrhundert, wo
wir wiederum einen (relativ) archaischen „Neubeginn" konstatieren wer-
den, sind jedenfalls homophone, die eine Stimmlinie betonende Neigun-
gen im Durchbruch. Nun werden wir aber vor der Grundtatsache stehen,
daß die gesamte Antike, also auch die späte, hellenistisch-römische,
eine konsonante, geschweige denn harmonische Mehrstimmigkeit vermissen
ließ. Daß hier die ganze Entwicklung der Tonkunst einstimmig geblieben
ist, innerhalb der Monodie aber Wandlungen durchläuft, die höchstens
einen gewissen heterophonen Vielklang zulassen. Dies alles in Zeiten, da
die bildenden und redenden Künste schon längst aus der Epoche der
Einschichtigkeit, Massivität, Koordination, der Beharrung (Wiederholung)
und Formelhaftigkeit, des „Unvermögens kleiner Unterschiede" iusw.
herausgekommen waren und da alle anderen Kunstgebiete einem klassischen
und barocken Zeitimpuls folgten, der auch die Malerei ihren früheren
raumlosen Zustand überwinden ließ!
15
Bemühungen um eine Raumdarstellung ohne Beziehung auf einen Be-
schauerstandpunkt, also ohne Zentralperspektive — sowohl die spätere
Antike wie das spätere Mittelalter und auch Ostasien gehören hierher. Erst
danach kommt die hochabendländische Raumdarstellung mit Illusions-
Zentralperspektive, die zugleich eine neuartig harmonisierende Funktion
ausübt. Wir werden erkennen, daß der zweiten Stufe das entspricht, was
wir die präharmonische Mehrstimmigkeit im späten Mittelalter nennen,
während die dritte offensichtlich mit dem zusammengeht, was in der Musik
zu der neuzeitlichen Dreiklangsharmonik hinführt, sei sie mehrstimmig
oder homophon. Danach würde naheliegen, was sich schon ohnehin der
Betrachtung aufdrängen möchte: daß nämlich der „Einschichtigkeit" im
flächenhaften Gestalten die Einschichtigkeit des einstimmigen Musizierens
entspricht, das ja zugleich auch das eigentlich „naturistische" ist. In der
Tat ist der Tonkunst der primitiven Völker wie der archaischen Kulturen
— seien sie nun ewig oder nur Durchgangsstufe, wie bei den Griechen —
die Mehrstimmigkeit im Ganzen fremd. Nur bei einigen wenigen Natur-
völkern sind Quinten- und Quartenparallelen (ähnlich dem mittelalterlichen
Parallelorganum) nachzuweisen oder ein dudelsackartiger Orgelpunkt;
die Harfenmusik der alten Chinesen, Ägypter und Sumerer läßt tatsächlich
eine gewisse Akkordstützung vermuten, und in derGamelanorchestermusik*
von Java und Bali glauben wir bisweilen in der farbigen Tonwolke des
Ganzen abendländischen Dreiklangsvorstellungen nahezukommen. Außer
diesem gelegentlichen Antasten der durch den Zeitimpuls gesetzten Grenzen
kann es sich nur um das handeln, was man Heterophonie genannt hat,
ein Umspielen der Kernmelodie, kein eigentlicher Kontrapunkt oder har-
monischer Satz.
Auch auf der neuen christlich-nachantiken Stufe beginnt die Entwick-
lungskurve mit neuer Einstimmigkeit, und im 16. und 17. Jahrhundert, wo
wir wiederum einen (relativ) archaischen „Neubeginn" konstatieren wer-
den, sind jedenfalls homophone, die eine Stimmlinie betonende Neigun-
gen im Durchbruch. Nun werden wir aber vor der Grundtatsache stehen,
daß die gesamte Antike, also auch die späte, hellenistisch-römische,
eine konsonante, geschweige denn harmonische Mehrstimmigkeit vermissen
ließ. Daß hier die ganze Entwicklung der Tonkunst einstimmig geblieben
ist, innerhalb der Monodie aber Wandlungen durchläuft, die höchstens
einen gewissen heterophonen Vielklang zulassen. Dies alles in Zeiten, da
die bildenden und redenden Künste schon längst aus der Epoche der
Einschichtigkeit, Massivität, Koordination, der Beharrung (Wiederholung)
und Formelhaftigkeit, des „Unvermögens kleiner Unterschiede" iusw.
herausgekommen waren und da alle anderen Kunstgebiete einem klassischen
und barocken Zeitimpuls folgten, der auch die Malerei ihren früheren
raumlosen Zustand überwinden ließ!