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PAUL KLOPFER
das „absolute Maß", d. h. das vom Räume selbst gegebene Maß; und es
kann nur dann walten, wenn der Raum uns keine Möglichkeit läßt, andere
Maße zum Vergleichen zu finden — es handelt sich hier also um die
„Größe schlechthin" (Kant a. a. O.). Dies wird ästhetisch dann der Fall
sein, wenn wir in einem geschlossenen Raum stehen, der sein Maß für sich
hat, und der uns die Möglichkeit nimmt, seine Größenabmessungen mit
uns selber zu vergleichen. Ich darf auf einen Vortrag von Peter Meyer14)
hinweisen, in welchem er von byzantinischen Kirchen in Griechenland
das folgende sagt: „Sehr merkwürdig ist die Winzigkeit der absoluten
Maße bei fast allen dieser byzantinischen Kirchen der späteren Zeit... in
diesem unwirklichen Märchenland fühlen wir uns wie verzaubert, wir
selber verlieren allen Zusammenhang mit dieser Welt und ihren festen
Maßstäben. Hier gilt einzig der Rang im theologischen Reich: Der Christus
des Kuppelmedaillons hat vielleicht vier- bis zehnfache Lebensgröße, die
Propheten in ganzer Gestalt im Tambur vielleicht das Doppelte... es ist,
wie wenn jeder Maßstab geflissentlich vernichtet würde, und der Gold-
grund nimmt der Wand vollends alle Körperlichkeit. Weil der Besucher
aber selber alle Maßstäbe verliert, kann der Architekt Dimensionen wagen,
die sonst unter allen Umständen lächerlich wirken müßten... auf Grund-
flächen von 6/11 m hat eine komplette Kreuzkuppelkirche Platz, mit 5
Kuppeln, 3 Absiden und doppelten Vorhallen, alles von Abortdimensionen,
die man aber übersieht, weil Vergleichspunkte fehlen." Ich habe die Worte
vor allem zitiert, um das Wesen des Maßstabes und die Wirkung, wenn
er uns fehlt, zu zeigen; für das Erhabene muß allerdings noch der Begriff
des unvergleichlich Großen in uns vorhanden sein, und der geht nicht
zuletzt von unserm eigenen Gemüte aus. Wir sind verzaubert, wir befinden
uns in einem „unwirklichen Märchenland", wir sind aus der gewohnten
Welt mit ihren gewohnten Maßstäben herausgenommen und stehen vor
einer anderen, ungewohnten Welt. In der Natur, in der erhabene Gegen-
stände, wie wir oben sahen, überhaupt fehlen, kann von „Erhabenheit"
eben nur gesprochen werden, wenn das Urteil nicht vom Naturgegenstand
selbst, sondern vom Gemüte des Urteilenden diktiert wird. Denn wie
Schiller (a. a. O.) sagt, verschafft uns das Erhabene „einen Ausgang aus
der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten
möchte". Im gewölbten Raum eines gotischen Domes werden wir in ent-
sprechender Weise die sinnliche Welt hinter uns lassen, und damit zugleich
Gemütes verstehen wir auch seine Worte vorher: „Man sieht aber hieraus sofort,
daß wir uns überhaupt unrichtig ausdrücken, wenn wir irgend einen Gegenstand
der Natur erhaben nennen". Man vergleiche damit den oben zitierten Satz von
Schiller, daß „die Gesetze der Natur nicht notwendig auch die unseren sind".
") Peter Meyer, Griechische Reise, Vortrag im Züricher Architektenverein, 1924.
PAUL KLOPFER
das „absolute Maß", d. h. das vom Räume selbst gegebene Maß; und es
kann nur dann walten, wenn der Raum uns keine Möglichkeit läßt, andere
Maße zum Vergleichen zu finden — es handelt sich hier also um die
„Größe schlechthin" (Kant a. a. O.). Dies wird ästhetisch dann der Fall
sein, wenn wir in einem geschlossenen Raum stehen, der sein Maß für sich
hat, und der uns die Möglichkeit nimmt, seine Größenabmessungen mit
uns selber zu vergleichen. Ich darf auf einen Vortrag von Peter Meyer14)
hinweisen, in welchem er von byzantinischen Kirchen in Griechenland
das folgende sagt: „Sehr merkwürdig ist die Winzigkeit der absoluten
Maße bei fast allen dieser byzantinischen Kirchen der späteren Zeit... in
diesem unwirklichen Märchenland fühlen wir uns wie verzaubert, wir
selber verlieren allen Zusammenhang mit dieser Welt und ihren festen
Maßstäben. Hier gilt einzig der Rang im theologischen Reich: Der Christus
des Kuppelmedaillons hat vielleicht vier- bis zehnfache Lebensgröße, die
Propheten in ganzer Gestalt im Tambur vielleicht das Doppelte... es ist,
wie wenn jeder Maßstab geflissentlich vernichtet würde, und der Gold-
grund nimmt der Wand vollends alle Körperlichkeit. Weil der Besucher
aber selber alle Maßstäbe verliert, kann der Architekt Dimensionen wagen,
die sonst unter allen Umständen lächerlich wirken müßten... auf Grund-
flächen von 6/11 m hat eine komplette Kreuzkuppelkirche Platz, mit 5
Kuppeln, 3 Absiden und doppelten Vorhallen, alles von Abortdimensionen,
die man aber übersieht, weil Vergleichspunkte fehlen." Ich habe die Worte
vor allem zitiert, um das Wesen des Maßstabes und die Wirkung, wenn
er uns fehlt, zu zeigen; für das Erhabene muß allerdings noch der Begriff
des unvergleichlich Großen in uns vorhanden sein, und der geht nicht
zuletzt von unserm eigenen Gemüte aus. Wir sind verzaubert, wir befinden
uns in einem „unwirklichen Märchenland", wir sind aus der gewohnten
Welt mit ihren gewohnten Maßstäben herausgenommen und stehen vor
einer anderen, ungewohnten Welt. In der Natur, in der erhabene Gegen-
stände, wie wir oben sahen, überhaupt fehlen, kann von „Erhabenheit"
eben nur gesprochen werden, wenn das Urteil nicht vom Naturgegenstand
selbst, sondern vom Gemüte des Urteilenden diktiert wird. Denn wie
Schiller (a. a. O.) sagt, verschafft uns das Erhabene „einen Ausgang aus
der sinnlichen Welt, worin uns das Schöne gern immer gefangen halten
möchte". Im gewölbten Raum eines gotischen Domes werden wir in ent-
sprechender Weise die sinnliche Welt hinter uns lassen, und damit zugleich
Gemütes verstehen wir auch seine Worte vorher: „Man sieht aber hieraus sofort,
daß wir uns überhaupt unrichtig ausdrücken, wenn wir irgend einen Gegenstand
der Natur erhaben nennen". Man vergleiche damit den oben zitierten Satz von
Schiller, daß „die Gesetze der Natur nicht notwendig auch die unseren sind".
") Peter Meyer, Griechische Reise, Vortrag im Züricher Architektenverein, 1924.