ZUR FRAGE DER ÄSTHETIK DES ARCHITEKTONISCHEN RAUMES 31
vorgebeugt, daß am Bauwerk jede Kontur, jeder Anschein von Tragen
und Lasten vernichtet, mindestens verwirrt und verundeutlicht wird, sei
dies durch die Filialen und die Wimperge, durch das Maßwerk an Pfeiler,
Wand und Bogen oder durch die Krabben auf den Giebellinien und über-
haupt durch die (vor allem in der gotischen Spätzeit) stark ausgeprägte
Lust am Entmaterialisieren.
Dem Helldunkel im Bau-Raum entspricht also das Luftige am Bau-
Körper, der im T u r m als der gewaltigsten Steigerung der Höhenstrebung
bis hinein ins Ungewisse in immer feineren Gliederungen dringt und mit
ihnen dort aufgeht — ganz im Gegensatz zur Architektur des hellenischen
Tempels, der quer und schwer seine Last von den Säulen aufnehmen läßt.
Fausts Sehnsucht aus dem „verfluchten dumpfen Mauerloch, wo selbst das
liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht" — diese Sehnsucht
eines Renaissance-Menschen aus der Unheimlichkeit der Scholastik heraus
— unheimlich, da sie nur beklommen macht, ohne der ästhetischen Kon-
templation zum Durchbruch und damit zum Erlebnis des Erhabenen zu
verhelfen — sie ist die Sehnsucht nach dem Schönen, das Schopenhauer
für die Baukunst als Sinnbild der platonischen Idee im klassischen Tempel-
bau verehrt, wenn er damit auch, gebunden an Stütze und Last, nur den
einen Teil des Gesamtbereiches der Baukunst trifft und den anderen, den
erhabenen der stereotomen Raumbildung, nicht erkennt.
10. Die Auflösung des stereotomen Raumes
Im Zuge des Triebes zum Ungemessenen im Räume müßte schließlich
ein Punkt erreicht werden, wo die Masse, die irdischerweise das einzige
Mittel ist zur Versinnlichung alles Bauens, diesem fehlt und das Werk im
Nichts zergeht. Im gleichen Augenblick aber wird die Reaktion einsetzen
und von der transzendentalen Bewegung sich umkehren zur immanenten.
So ist zu erklären, daß mit dem Ausgang des AAittelalters die italienische
Renaissance als „schöne" Kunst den Einzug nach dem Norden fand, daß
— zunächst ornamental, später auch tektonisch — die Kirchenbauten der
sog. „Deutschen Renaissance" den Sinn (i. e. die „innere Form") der stereo-
tomen Bildungen nicht mehr verstanden; daß etwa die Strebepfeiler statt
der spitzen Fialen menschliche Figuren aufgesetzt bekamen, daß die Pfeiler
Säulenformen annahmen, die Decken kassettiert, die Türme abgestumpft
und mit welscher Haube versehen wurden.
Der irdisch gebundene Bauwille konnte nicht über sich hinaus: vom
Irrationalen mußte er umkehren zum rationalen Bilden und Bauen. Die
Kurve, welche hyperbolisch in die Unendlichkeit strebte, mußte am Ende
umkehren in die dreidimensionale Wirklichkeit des Körperlichen. Die er-
habene Schönheit des stereotomen Bauwerks büßte zuletzt ihre Erhabenheit
vorgebeugt, daß am Bauwerk jede Kontur, jeder Anschein von Tragen
und Lasten vernichtet, mindestens verwirrt und verundeutlicht wird, sei
dies durch die Filialen und die Wimperge, durch das Maßwerk an Pfeiler,
Wand und Bogen oder durch die Krabben auf den Giebellinien und über-
haupt durch die (vor allem in der gotischen Spätzeit) stark ausgeprägte
Lust am Entmaterialisieren.
Dem Helldunkel im Bau-Raum entspricht also das Luftige am Bau-
Körper, der im T u r m als der gewaltigsten Steigerung der Höhenstrebung
bis hinein ins Ungewisse in immer feineren Gliederungen dringt und mit
ihnen dort aufgeht — ganz im Gegensatz zur Architektur des hellenischen
Tempels, der quer und schwer seine Last von den Säulen aufnehmen läßt.
Fausts Sehnsucht aus dem „verfluchten dumpfen Mauerloch, wo selbst das
liebe Himmelslicht trüb durch gemalte Scheiben bricht" — diese Sehnsucht
eines Renaissance-Menschen aus der Unheimlichkeit der Scholastik heraus
— unheimlich, da sie nur beklommen macht, ohne der ästhetischen Kon-
templation zum Durchbruch und damit zum Erlebnis des Erhabenen zu
verhelfen — sie ist die Sehnsucht nach dem Schönen, das Schopenhauer
für die Baukunst als Sinnbild der platonischen Idee im klassischen Tempel-
bau verehrt, wenn er damit auch, gebunden an Stütze und Last, nur den
einen Teil des Gesamtbereiches der Baukunst trifft und den anderen, den
erhabenen der stereotomen Raumbildung, nicht erkennt.
10. Die Auflösung des stereotomen Raumes
Im Zuge des Triebes zum Ungemessenen im Räume müßte schließlich
ein Punkt erreicht werden, wo die Masse, die irdischerweise das einzige
Mittel ist zur Versinnlichung alles Bauens, diesem fehlt und das Werk im
Nichts zergeht. Im gleichen Augenblick aber wird die Reaktion einsetzen
und von der transzendentalen Bewegung sich umkehren zur immanenten.
So ist zu erklären, daß mit dem Ausgang des AAittelalters die italienische
Renaissance als „schöne" Kunst den Einzug nach dem Norden fand, daß
— zunächst ornamental, später auch tektonisch — die Kirchenbauten der
sog. „Deutschen Renaissance" den Sinn (i. e. die „innere Form") der stereo-
tomen Bildungen nicht mehr verstanden; daß etwa die Strebepfeiler statt
der spitzen Fialen menschliche Figuren aufgesetzt bekamen, daß die Pfeiler
Säulenformen annahmen, die Decken kassettiert, die Türme abgestumpft
und mit welscher Haube versehen wurden.
Der irdisch gebundene Bauwille konnte nicht über sich hinaus: vom
Irrationalen mußte er umkehren zum rationalen Bilden und Bauen. Die
Kurve, welche hyperbolisch in die Unendlichkeit strebte, mußte am Ende
umkehren in die dreidimensionale Wirklichkeit des Körperlichen. Die er-
habene Schönheit des stereotomen Bauwerks büßte zuletzt ihre Erhabenheit