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MARGARETE RIEMSCHNEIDER-HOERNER
amoureux" von Jehan Acart de Hesdin finden wir unsere Jagdszene
wieder. Hier wird der Liebhaber von seinen symbolischen Hunden,
die die einzelnen Eigenschaften der Dame verkörpern, gehetzt und zer-
rissen. Amor verteilt seine Glieder und Eingeweide an die Hunde, das
„Herz" und den „Willen" aber überreicht er der Dame. Wo ist hier
die Grenze? Ist das eine erträglicher, weil die Allegorie aufdringlicher
ist? Wird dadurch die Realität abgeschwächt? Das Bild ist genau so
scheußlich wie die Jagd bei Boccaccio, wenn wir sie uns „real" vor-
stellen. Daß wir uns in dem einen Fall davor hüten, berechtigt uns nicht,
es das andere Mal zu lassen. Die drei Jagdgeschichten sind völlig gleich.
Die richtige Einstellung aber ist die, die wir Jehan Acart gegenüber
haben. Und die Häufigkeit und Beliebtheit des Jagdbildes zeigt seine
Abgegriffenheit und sagen wir ruhig — vorstellerische Harmlosigkeit.
Es ist für uns nicht leicht, in fehlender Anschaulichkeit keinen Man-
gel zu sehen und ganze Szenen rein begrifflich und nicht anschaulich
zu nehmen. Wenn wir sagen: „Ich habe mit Schmerzen auf Dich gewar-
tet", so wird der Säumige sich gewiß „keine grauen Haare wachsen"
lassen. Das heißt, unsere Bilder sind unanschaulich geworden. Solche
der Anschaulichkeit entzogenen Gleichnisse gab es damals in solchen
sich stets wiederholenden Geschichten wie der Jagdszene. Daß man im-
stande ist, die Allegorie des von seinen Hunden zerrissenen Liebhabers
zu ertragen und sie nicht geschmacklos zu finden, ist ein Zeichen, daß
sie nicht real genommen ist. Keinesfalls aber ist sie ein Zeichen für
nervenstarke Heldenhaftigkeit. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der
Held des 14. Jahrhunderts sieht in moderner Beleuchtung recht merk-
würdig aus. Wenn es sich um Nerven und um Ertragen des Schreck-
lichen handelt, so ist er der erste, der versagt.
Auch Dante schildert seine Haltung in der „Göttlichen Komödie"
durchaus nicht heldisch. Im Gegenteil, er ist von einer Empfindsamkeit,
die man selten begreift und die in merkwürdigem Widerspruch zu der
Charakterzeichnung steht, die seine Kommentatoren von ihm zu ent-
werfen gewohnt sind. Mehr als einmal fällt er in Ohnmacht. Sehr häufig
verschlägt ihm die Stimme, er ist unfähig zu sprechen, er klammert sich
an seinen Führer. Erröten und Erbleichen spielt eine ungewöhnlich große
Rolle. Dazu kommt das schamhafte Neigen des Kopfes, das Nieder-
schlagen der Augen und eine durchaus mädchenhafte Empfindlichkeit
gegenüber dem leisesten Tadel. Suchen wir zur Stütze unserer Behaup-
tung, daß das Ideal kein kriegerisches ist, nun dieses selbst, so finden
wir es deutlich gezeichnet in der Figur des Veltro, des „Erretters":
„Questo non ciberä terra ne peltro,
Ma sapienza ed amore e virtute",
MARGARETE RIEMSCHNEIDER-HOERNER
amoureux" von Jehan Acart de Hesdin finden wir unsere Jagdszene
wieder. Hier wird der Liebhaber von seinen symbolischen Hunden,
die die einzelnen Eigenschaften der Dame verkörpern, gehetzt und zer-
rissen. Amor verteilt seine Glieder und Eingeweide an die Hunde, das
„Herz" und den „Willen" aber überreicht er der Dame. Wo ist hier
die Grenze? Ist das eine erträglicher, weil die Allegorie aufdringlicher
ist? Wird dadurch die Realität abgeschwächt? Das Bild ist genau so
scheußlich wie die Jagd bei Boccaccio, wenn wir sie uns „real" vor-
stellen. Daß wir uns in dem einen Fall davor hüten, berechtigt uns nicht,
es das andere Mal zu lassen. Die drei Jagdgeschichten sind völlig gleich.
Die richtige Einstellung aber ist die, die wir Jehan Acart gegenüber
haben. Und die Häufigkeit und Beliebtheit des Jagdbildes zeigt seine
Abgegriffenheit und sagen wir ruhig — vorstellerische Harmlosigkeit.
Es ist für uns nicht leicht, in fehlender Anschaulichkeit keinen Man-
gel zu sehen und ganze Szenen rein begrifflich und nicht anschaulich
zu nehmen. Wenn wir sagen: „Ich habe mit Schmerzen auf Dich gewar-
tet", so wird der Säumige sich gewiß „keine grauen Haare wachsen"
lassen. Das heißt, unsere Bilder sind unanschaulich geworden. Solche
der Anschaulichkeit entzogenen Gleichnisse gab es damals in solchen
sich stets wiederholenden Geschichten wie der Jagdszene. Daß man im-
stande ist, die Allegorie des von seinen Hunden zerrissenen Liebhabers
zu ertragen und sie nicht geschmacklos zu finden, ist ein Zeichen, daß
sie nicht real genommen ist. Keinesfalls aber ist sie ein Zeichen für
nervenstarke Heldenhaftigkeit. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der
Held des 14. Jahrhunderts sieht in moderner Beleuchtung recht merk-
würdig aus. Wenn es sich um Nerven und um Ertragen des Schreck-
lichen handelt, so ist er der erste, der versagt.
Auch Dante schildert seine Haltung in der „Göttlichen Komödie"
durchaus nicht heldisch. Im Gegenteil, er ist von einer Empfindsamkeit,
die man selten begreift und die in merkwürdigem Widerspruch zu der
Charakterzeichnung steht, die seine Kommentatoren von ihm zu ent-
werfen gewohnt sind. Mehr als einmal fällt er in Ohnmacht. Sehr häufig
verschlägt ihm die Stimme, er ist unfähig zu sprechen, er klammert sich
an seinen Führer. Erröten und Erbleichen spielt eine ungewöhnlich große
Rolle. Dazu kommt das schamhafte Neigen des Kopfes, das Nieder-
schlagen der Augen und eine durchaus mädchenhafte Empfindlichkeit
gegenüber dem leisesten Tadel. Suchen wir zur Stütze unserer Behaup-
tung, daß das Ideal kein kriegerisches ist, nun dieses selbst, so finden
wir es deutlich gezeichnet in der Figur des Veltro, des „Erretters":
„Questo non ciberä terra ne peltro,
Ma sapienza ed amore e virtute",