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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Hartlaub, Gustav Friedrich: Der Symbolwert des Historischen in der Baukunst unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0176
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O. F. HARTLAUB

hielten oder sie gar auf neuer Ebene wiederaufzurichten trachteten. Nur
für diese letzteren konnte zum Beispiel das handwerkliche, ornament-
nahe Gestalten im alten Sinn noch einen Gefühlswert haben, nur sie konn-
ten auf den Gedanken kommen, daß dieses Handwerk auch im Zeitalter
der maschinellen Serienerzeugung möglichst zu bewahren und zu erneuern
sei; nur sie konnten auch an ein Ornament im alten Sinne glauben, so
wie an eine lapidare, plastisch-anthropomorphe Baukunst, welche doch im
Zeitalter des Eisenbetons wie pure Romantik anmuten mußte. In dieser
scharfen Gegenüberstellung der „Zeitgemäßen" mit ihrem rationalen Ge-
sellschaftsbegriff und der „Unzeitgemäßen" lag ein verhängnis-
voller Irrtum. Es war im Wesentlichen ein Fehler in der Beurteilung
des Menschen und seiner seelisch-geistigen Struktur — einer der vielen
Fehler, die man in der Nachkriegszeit gerade auf psychologischem
Gebiet gemacht hat. Es ist nämlich nicht so, daß nur eine Schicht der
„wohlangepaßten" Zeitgenossen anderen weniger gut angepaßten und
„zurückgebliebenen" gegenüberstünde; vielmehr trägt jeder einzelne
— und auch der, welcher sich dem Zeitalter in seinem äußeren Denken,
Tun und Trachten durchaus angemessen verhält — diese sogenannte
Zurückgebliebenheit in sich selber! Es hätte nicht erst der modernen
Tiefenpsychologie mit ihrer Traumanalyse, nicht der neuen Erkenntnis
von dem Schichtenaufbau der Persönlichkeit, nicht gewisser psychia-
trischer Beobachtungen bedurft (die abnorme Ausbrüche des Archaischen
im Menschen nachgewiesen haben), um das einzusehen, sondern mancher
ganz alltäglicher Erfahrungen. Das Zeitalter der Technik und der Ratio,
die Epoche des rein wissenschaftlich-kritischen Denkens in Natur- und
Geschichtswissenschaft bildet, folgerichtig zu Ende geführt, in der Seele
des Menschen eine gewisse gleichmäßige Helligkeit, die uns blind macht
gegenüber alle dem, was am Rande und weiter nach den Tiefen zu im
Unterbewußten und Halbbewußten schlummert. In Wirklichkeit gehört
dies Dunkel zur normalen Polarität, zum wünschenswerten
Gleichgewicht, zur Gesundheit der Seele. Sehr viele altertüm-
liche, im Grunde ganz „unangepaßte", rational gar nicht zu haltende
Gesichtspunkte bewahren die Religionen, indem ihnen die Kirchen
oder Sekten ein gewisses mehr oder minder öffentlich anerkanntes Schutz-
gebiet, ein „Reservat" geschaffen haben. Vieles hat sich auch in den unver-
bindlicheren Ersatz des Künstlerischen, des Ästhetischen und seines
„Als ob" geflüchtet, in die Fiktion des Romantischen im weitesten Sinne.
Anderes lebt in einem völlig aufgeklärten Hirn als kleiner privater Aber-
glaube weiter, nicht selten jedoch auch als merkwürdige Bereitschaft,
neben dem lebensbrauchbaren Verhalten ein ganzes System von Mystik
und Theosophie in sich zu dulden. Das merkwürdige „Doppelleben"
mancher Zeitgenossen erklärt sich so, und nur in unserer Gegenwart
 
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