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Q. F. HARTLAUB
der (durch Kant vollendeten) Aufklärung und des beginnenden Kritizis-
mus. Er ist mehr Wunschbild als Ausdruck, mehr Sollen als Sein (wäh-
rend das Zeitalter der Renaissance, in welchem neben dem kritisch hellen
Erasmus auch Geister wie Paracelsus wirkten, das Freischöpferische sich
noch glücklich mit dem Nachschöpferischen gemischt hatte). Sobald die
Persönlichkeitsschichten auseinanderzuklaffen beginnen, ältere (auf Glau-
ben und sogar auch auf Aberglauben gegründete) Schichten im „Lichte"
der oberen, jüngeren nicht mehr ihr Recht rinden, nimmt die Kunst und
ihr Stil etwas einseitig Geistiges, Willensmäßiges (im Sinne von Klages)
an. Man „entschließt" sich, zu historisieren — was man in früheren Jahr-
hunderten nur selten und in einem viel freieren instruktiveren Sinne getan
hatte. Indem die Kunst jenen älteren Schichten bewußt zu genügen suchte,
bot sich ihr naturgemäß der Historismus und die Stilnachahmung. Auch
der Klassizismus war so schon eine „Romantik". Das neunzehnte Jahr-
hundert sodann, welches mit der Mutation zur modernen Wissenschaft
und noch mehr zur modernen Technik, mit den bürgerlichen Revolutionen
vollständig neue und unerhörte Elemente in das Dasein des
Menschen eingeführt hat, mußte zunächst einmal zwangsläufig das Ro-
mantische mit dem Technischen und Ingenieurhaften auf unerträgliche
Weise ineinandermischen.
Der ursprünglichste Sinn der Stilrekapitulationen liegt zweifellos in
dem Gefühl, daß das neue Zeitalter für gewisse Aufgaben — so etwa die
kirchlichen — keinen eigenen Ausdruck mehr zu finden
weiß, weil es im Geheimen nicht mehr daran glaubt. Die
ältere, gläubigere Schicht dagegen nimmt gewisse Formen der Vergangen-
heit nun gewissermaßen symbolisch, so vor allem die gotischen (Spitz-
bogen, Maßwerk, Kreuzgewölbe, Strebewerk usw.) für das nordisch
gefärbte Christentum. Dieser Symbolcharakter mancher Stilformen, ihre
bei Freund und Feind unabtrennbare assoziative Verbundenheit mit ge-
wissen Vorstellungen, ist es, was die Romantik veranlaßt, sie da zu
zitieren, wo ältere im Gegensatz zur Aufklärung stehende Inhalte nach
Ausdruck verlangen. Erst später trat der persönliche Geschmack, die
Liebhaberei, das Bedürfnis nach Abwechslung, ein oberflächlich ästheti-
sches oder gar kunsthistorisches Element an Stelle der echten sinnbild-
lichen Bedürfnisse. Jetzt wurde die antike Säulenordnung mit allem ihrem
Zubehör, das Gotische und vielleicht noch das Altchristliche, nicht nur bei
jenen innerlich passenden Anlässen aufgerufen, sondern auch dort, wo es
wesentlich gar nichts zu sagen hatte: und dies alles entschieden aus
jenem Schamgefühl, wie man es lange Zeit gegenüber den „nüchternen"
Aufgaben des neuen Zeitalters empfunden hat, weiter aber auch aus Stolz
auf die modernen Errungenschaften, endlich aus dem romantisch un-
klaren Verlangen, sich mindestens äußerlich den verlorenen Schönheiten
Q. F. HARTLAUB
der (durch Kant vollendeten) Aufklärung und des beginnenden Kritizis-
mus. Er ist mehr Wunschbild als Ausdruck, mehr Sollen als Sein (wäh-
rend das Zeitalter der Renaissance, in welchem neben dem kritisch hellen
Erasmus auch Geister wie Paracelsus wirkten, das Freischöpferische sich
noch glücklich mit dem Nachschöpferischen gemischt hatte). Sobald die
Persönlichkeitsschichten auseinanderzuklaffen beginnen, ältere (auf Glau-
ben und sogar auch auf Aberglauben gegründete) Schichten im „Lichte"
der oberen, jüngeren nicht mehr ihr Recht rinden, nimmt die Kunst und
ihr Stil etwas einseitig Geistiges, Willensmäßiges (im Sinne von Klages)
an. Man „entschließt" sich, zu historisieren — was man in früheren Jahr-
hunderten nur selten und in einem viel freieren instruktiveren Sinne getan
hatte. Indem die Kunst jenen älteren Schichten bewußt zu genügen suchte,
bot sich ihr naturgemäß der Historismus und die Stilnachahmung. Auch
der Klassizismus war so schon eine „Romantik". Das neunzehnte Jahr-
hundert sodann, welches mit der Mutation zur modernen Wissenschaft
und noch mehr zur modernen Technik, mit den bürgerlichen Revolutionen
vollständig neue und unerhörte Elemente in das Dasein des
Menschen eingeführt hat, mußte zunächst einmal zwangsläufig das Ro-
mantische mit dem Technischen und Ingenieurhaften auf unerträgliche
Weise ineinandermischen.
Der ursprünglichste Sinn der Stilrekapitulationen liegt zweifellos in
dem Gefühl, daß das neue Zeitalter für gewisse Aufgaben — so etwa die
kirchlichen — keinen eigenen Ausdruck mehr zu finden
weiß, weil es im Geheimen nicht mehr daran glaubt. Die
ältere, gläubigere Schicht dagegen nimmt gewisse Formen der Vergangen-
heit nun gewissermaßen symbolisch, so vor allem die gotischen (Spitz-
bogen, Maßwerk, Kreuzgewölbe, Strebewerk usw.) für das nordisch
gefärbte Christentum. Dieser Symbolcharakter mancher Stilformen, ihre
bei Freund und Feind unabtrennbare assoziative Verbundenheit mit ge-
wissen Vorstellungen, ist es, was die Romantik veranlaßt, sie da zu
zitieren, wo ältere im Gegensatz zur Aufklärung stehende Inhalte nach
Ausdruck verlangen. Erst später trat der persönliche Geschmack, die
Liebhaberei, das Bedürfnis nach Abwechslung, ein oberflächlich ästheti-
sches oder gar kunsthistorisches Element an Stelle der echten sinnbild-
lichen Bedürfnisse. Jetzt wurde die antike Säulenordnung mit allem ihrem
Zubehör, das Gotische und vielleicht noch das Altchristliche, nicht nur bei
jenen innerlich passenden Anlässen aufgerufen, sondern auch dort, wo es
wesentlich gar nichts zu sagen hatte: und dies alles entschieden aus
jenem Schamgefühl, wie man es lange Zeit gegenüber den „nüchternen"
Aufgaben des neuen Zeitalters empfunden hat, weiter aber auch aus Stolz
auf die modernen Errungenschaften, endlich aus dem romantisch un-
klaren Verlangen, sich mindestens äußerlich den verlorenen Schönheiten