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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Wiegand, Julius: Die episierende Lyrik
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0199
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DIE EPISIERENDE LYRIK

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Stichproben bei Opitz, Fleming, Gryphius, Hofmannswaldau, Canitz,
Chr. Weise, Geliert mir zu beweisen scheinen. Eine Ausnahme macht das
Epigramm, das öfter den verspotteten Zustand oder Vorgang berichtet:
Wernicke, „Palämon", „Pietro de Medici"; Hagedorn, „Veit". „Pietro"
steht dem auf S.181 mitgeteilten „Witz" von Pfeffel nahe. Mit der Anakreon-
tik setzt in der Lyrik das Episierende stärker ein, mit scherzhaften, leicht-
fertigen Bildchen aus dem Trinker- und Liebesleben: Hagedorn, „Lauf
der Welt": fünf Strophen mit fünf Berichten über je eine merkwürdige
Äußerung eines Charakters; derselbe, „Die verliebte Verzweiflung";
Lessing, „Der Tod", „Die Haushaltung". Aber auch Klopstock liebt in
den Oden episierende Einkleidung: „Der Eislauf", „Heinrich der Vogler",
„Das Rosenband". Als dann in Sturm und Drang das Volkslied Vorbild
wird, vollzieht sich bei Bürger, Claudius, Goethe die Hinwendung zum
episierenden Gedicht. Die Folgezeit geht in den Spuren Goethes und des
Volkslieds: Mörike, Heine, Storm. Der Volksliedsammler Brentano we-
niger. Auch Schiller neigt trotz seinen Balladen mehr zu andern Aufbau-
formen. Hingegen entspricht bei C. F. Meyer das Episierende seiner eif-
rigen Bemühung um Ballade und Novelle. Auch bei Liliencron zeigt sich
Zusammenhang zwischen Kleinepik und episierender Lyrik. Seit dem Ein-
setzen des Realismus und Positivismus wird das Reflektierende und Ge-
dankliche in der Lyrik für hohle Rhetorik und unwahrhaftiges Pathos
erklärt. Realismus und Naturalismus bevorzugen das Anschauliche, Sin-
nenhafte und preisen als höchste Kunst den Ausdruck des Gefühls durch
Verkörperlichung ohne jede begriffliche Deutung. Storm war als Rufer
vorangegangen. Die Angst vor der Verkopfung nimmt zu. Der Symbolis-
mus stellt das gegenständliche und damit auch das episierende Symbol
neben das Klangsymbol. So kommt George zu seiner Vorliebe für sinn-
bildliche Gebärdungen und Vorgänge. Rilke hat nicht so viel Episierendes;
er denkt zwar auch in anschaulichen Vorstellungen und Sinnbildern; aber
er häuft lieber die kennzeichnenden Züge zu einem beschreibenden
Charakterbild („Die Kurtisane", „Der Stylit").

Dieser Überblick kann natürlich nur lückenhaft sein, nicht nur deshalb,
weil viele Dichter unberücksichtigt bleiben, sondern vor allem, weil er
nur nach dem Auftreten des Episierenden schlechthin fragt, ohne auf die
in dieser Arbeit aufgezeigten Stufen, Unterarten und Schattierungen ein-
zugehen, was nur nach langwieriger Kleinarbeit möglich wäre.
 
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