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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 34.1940

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Thomae, Walter: Der Architekturraum als Erlebnisraum: (zu dem gleichnamigen Buche von Karl Heinz Esser, Bonn 1940)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14215#0265
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BEMERKUNGEN

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gehen kann. In diesem Sinne ist der Raum für ihn eine „Gegebenheit". Er bezeich-
net also die philosophischen Raumbegriffe als für die Kunstwissenschaft nicht
brauchbar.

Nun wendet sich aber Esser zweitens gegen die Raumanschauung im kunst-
wissenschaftlichen Schrifttum, bei Frankl, Brinkmann, Hauttmann u. a. Es ist ja
Tatsache, daß in den letzten Jahrzehnten die Kunstwissenschaft die Raumwirkung
in den Bauten erst recht beachtet hat; ältere Beschreibungen haften an der raum-
abschließenden Architektur. Vielleicht hängt dies zusammen mit dem Wiederauf-
leben des Verständnisses für das Barock, und mit der intensiveren Untersuchung
des Geistes der Gotik (Dvorak, Worringer u. a.). Die griechische Antike kannte
wenig Raumaufgaben, bei den Römern beginnen sie, in Byzanz werden sie Haupt-
sache (Sophienkirche), das Christentum braucht ein „Gotteshaus", das zugleich
„Gemeindehaus" ist. Die Entwicklung in der christlichen Kirche aufzuzeigen ge-
hört zu den wesentlichen Neuerungen der Kunstwissenschaft. Da hören wir von
der Raumtrennung in der Romanik, von der Raumverschmelzung in der Gotik, von
einer Umkehr in der Renaissance und einem Wiederaufleben des gotischen Raum-
gedankens, wenigstens in Variation, im Barock. So mußten sich neue Begriffe
bilden, wie: Raumaddition, Raumdurchdringung, Raumverzahnung, Raummodellie-
rung, Raumdurchknetung, Raumquader, Körper negativer Art usw. Mit diesen
Begriffen geht nun Esser ins Gericht und setzt an ihre Stelle neue, die wesentlich
darauf hinauskommen, daß das Raumerlebnis auf menschliche Körpergefühle zu-
rückgehe. So erhalten wir drei Gruppen von Raumbegriffen: die philosophische, die
kunstwissenschaftliche und die Essersche.

Diese Trennung in drei Raumbegriffe kann ich aber nicht gelten lassen. Das
Prinzip von der Einheit der Wissenschaften verlangt schlechterdings, daß es nur
einen Raumbegriff gibt. Dieser aber kann nur naturwissenschaftlich sein, nämlich
objektiv-physikalisch und subjektiv-psychologisch, und auf ihm hat die Kunstwissen-
schaft aufzubauen, unter Anwendung des natürlichen Raumbegriffes. Unbewußt ist
das auch schon meist der Fall gewesen.

Was den abstrakten philosophischen Raumbegriff betrifft, bei Cartesius, Leib-
niz, Kant, so ist er wohl nur eine Verwechslung mit der mathematischen Fiktion
von Körper und Raum, von der ich nachher reden will. Einen „leeren" Raum gibt es
in Natur nicht und folglich auch nicht in der Vorstellung. In Natur gibt es nur
Raumkörper, d. h. stofferfüllte stereometrische Figuren, sie sind aber verschieden
in der Dichte der Stoffe. Sobald nun der dünnere Stoff — in der Baukunst ist es
durchweg die Luft — von einem dichteren umgeben ist, z. B. von einer Stein-
mauer, nennen wir den inneren Raumkörper einen Raum und den äußeren einen
Körper. Das wesentliche daran ist, daß infolge der geringeren Dichte die Bewe-
gung des Menschen wenig gehemmt ist, das Auge ihn übersehen, das Ohr ihn
überhören kann, indem Tastsinn, Licht und Schall verhältnismäßig unbehindert hin-
durch können, womit das Gefühl der Beherrschung verbunden ist. Wohlgemerkt:
verhältnismäßig, denn auch die Wand kann lichtdurchlässig sein (Glas)
oder schalldurchlässig, sie kann auch weich sein (Vorhang), so daß sie den Hän-
den nachgibt.

Desgleichen ist der „Raum" ebenso wie der „Körper" nur dadurch meßbar,
daß er stofferfüllt ist. Der Tastsinn kann ihn messen, indem z. B. der Vogel mit
seinem Flügelschlage den Raum „durchmißt", der Schwimmer, falls der Raum mit
Wasser gefüllt ist, seine Stöße zählt, ohne auf diesem Wege die Außenwand zu
berühren. Oder das Auge sieht die Gegenstände im Räume je ferner, desto schwä-
cher, weil die Lichtschwingungen mit der Ferne eine geschwächte Amplitude zei-
gen (Luftperspektive), oder der Schall wird in größerer Entfernung schwächer
 
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