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Zeitschrift für christliche Kunst — 11.1898

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Semper, Hans: Ueber eine besondere Gruppe elfenbeinerner Klappaltärchen des XIV. Jahrh. , [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.3834#0078

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115

1898.

ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.

116

Halbgiebel der einzelnen Flügeltheile. Sonst
ist die architektonische Anordnung und Formen-
behandlung beider Altärchen fast völlig über-
einstimmend. 2) Dasselbe gilt von den figuralen
Skulpturen, welche nach einem und demselben
Kompositionsschema behandelt sind, innerhalb
dessen allerdings kleine Verschiedenheiten im
Einzelnen hervortreten, die aber die typische
Uebereinstimmung nicht verwischen.

Vergleichen wir zunächst die Hochrelief-
figuren Maria's, welche an beiden Altärchen
die Baldachinnische ausfüllen, so zeigen beide
Figuren den S förmigen, gothischen Rhythmus
der Bewegung, aber noch in der vornehm-mafs-
vollen Weise, wie sie besonders der französischen
Skulptur in der ersten Hälfte des XIV. Jahrh.
eigen war. Das Ausbiegen der linken Hüfte
und das Zurückbiegen des Oberleibes, während
der Kopf wieder sich leise nach vorwärts neigt,
erscheint bei diesen, wie zahllosen ähnlichen
Madonnenfiguren des XIV. Jahrh. noch theil-
weise motivirt durch die Last des Kindes, das
in beiden vorliegenden Fällen auf der linken
Hand der Madonna sitzt. Auch die Bestand-
theile und Motive der Gewandung stimmen bei
beiden Figuren wesentlich überein. Ueber einem
langen Kleid, dessen Saum sich am Boden in
natürlichen Falten auflegt, ist ein mit breiter,
gemusterter Borte eingefafster, vom Hinterhaupt
über den Rücken herabfallender Mantel quer
vor den Leib gezogen, vor welchem er schöne,
wellige aber nicht übertrieben geschweifte Falten
bildet. Auf dem Kopf der Madonna wird er
von einer mit Zacken und Lilien geschmückten
Krone gehalten. Während auf dem Londoner
Altärchen ein herabschwebender Engel (als
Brustbild) ihr die Krone oben aufsetzt, fehlt
dieser Engel auf dem Pariser Altärchen, in
Folge dessen hier auch der die Nische ab-
schliefsende Spitzbogen gedrückter und dem
Kopf der Madonna näher gerückt ist als auf
dem Londoner Altärchen.

Auf letzterem hält ferner Maria die rechte
Hand nach oben und trug wahrscheinlich ehe-
mals einen Blumenstraufs oder Lilienstengel
darin, während auf dem Pariser Altar die ent-

2) Das Londoner Altärchen steht überdies auf
einem oblongen Sockel, der laut Aufschrift eine Re-
liquie des hl. Chrysogonus enthält und ursprünglich
zum Altärchen gehört. Am Pariser Altärchen fehlt
der Sockel, doch findet er sich in entsprechender, ein-
fachster Profilirung noch an mehreren Altärchen der-
selben Gattung.

sprechende Hand nach abwärts gerichtet ist
und den Ueberrest eines Stengels oder Stabes
zierlich zwischen Zeigefinger und Daumen hält.
— Auf dem Londoner Altar ist ferner das Kind
ganz bekleidet, lockig und hält, der Madonna
lächelnd zugewendet, die Rechte segnend empor,
in der Linken trägt es einen Apfel. Am Pariser
Altärchen hat das Kind den Oberkörper ent-
blöfst, seine Haare sind mehr strähnig behandelt,
die Rechte legt es der Madonna auf die Brust,
in der Linken hält es den Apfel. Madonna
und Kind sind hier also schon familiärer auf-
gefafst, als auf dem Londoner Altärchen. Wenn
nun auch jene Auffassung im Allgemeinen als
eine spätere Entwicklungsstufe anzusehen ist,
so schliefst dieser Umstand das annähernd gleich-
zeitige Entstehen beider Altärchen doch nicht
aus, welches vielmehr durch die sonstigen sti-
listischen Uebereinstimmungen wahrscheinlich
gemacht wird. Die einzelnen Entwicklungs-
phasen pflegen eben auch in der Kunst, wie
die Glieder einer Kette, in einander überzu-
greifen, oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen,
auf demselben Rosenstock pflegen neben auf-
geblühten Blumen auch Knospen zu stehen.
Ebenso pflegen auch in derselben Werkstatt
oder Schule, ja unter der Hand desselben
Meisters Formen und Motive zu entstehen,
welche einerseits den ausgereiften Zustand älterer
Auffassungen, andererseits den Keim neuer ver-
treten.

Was nun die Reliefs betrifft, welche in zwei
Reihen die acht Abtheilungen der Innenseiten
der beiden Doppelflügel schmücken, während
die Aufsenseiten glatt sind, so stellen sie auf
beiden Altärchen dieselben Vorgänge aus
dem Marienleben dar, nämlich in der oberen
Reihe die Verkündigung, Heimsuchung
und Christi Geburt, in der unteren Reihe
die Anbetung der Könige und die Dar-
stellung im Tempel. — Auch die Reihen-
folge der Vorgänge und die Vertheilung
der Figuren ist auf beiden Altären die-
selbe, mit der einzigen Ausnahme, dafs am
Pariser Altärchen die Verkündigung links
oben am linken Flügel, und daneben die Heim-
suchung angebracht ist, während am Londoner
Altärchen diese beiden Szenen ihren Platz ver-
tauscht haben.

Hinsichtlich der Kompositionen im Einzelnen
ist zu bemerken, dafs die Verkündigung
auf dem einen Altärchen das genaue Spiegel-
 
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