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Die Ochse
das unruhige Bürschchen ihrem Herrn ab, der ohne ein Wort
zu entgegnen sich aus einen Stuhl sinken ließ und seine Arme
auf den Tisch stemmend, das Angesicht in die Hände begrub.
Lange, lange Jahre hatte Niemand es gewagt, den
Kinderlosen an seinen verlorenen Sohn zn erinnern, allein
sein Herz — und welches Vaterherz könnte es auch — ver-
gaß deshalb nicht. Ist es aber schon hart, ohne eigenes
Verschulden einsam im Leben zu stehen, nachdem man Eltern-
liebe und Elternsorge kennen gelernt, um wie viel schwerer
muß es nicht sein, wenn in das Wehe sich der Vorwurf
mischt: Du trägst die Folgen Deines eigenen Versäumnisses;
erst verwöhntest Du Dein Kind durch eine fast blinde Zärt-
lichkeit und niachtest sein junges Herz empfindlich für jedes
rauhe Wort, für jeden harten Blick; dann aber, als Du ihm
durch zweifache Sorgfalt das erkaltete Mutterherz hättest er-
setzen sollen, überließest Du das Verwaiste den Unbilden einer
lieblosen Stiefmutter, die mit ihrer schönen Außenseite, ihren
Schmeichelworten Dich bethört und Deine Augen blind ge-
macht hatte für den stillen Jammer — die Verzweiflung
Deines Lieblings, Deines Erstgeborenen.
Diese Gedanken mochten den unglücklichen Mann bei
der so lebhaften Mahnung an sein todtes Kind beschäftigt
haben, denn als er die Hände langsam vom Gesicht herab-
gleiten ließ, da rollten große Thräncntropfen über seine ge-
furchten Wangen hinab. Bärbel hatte mit dem Knaben leise
die Stube verlassen. Indessen hatte im Zimmer der Forst-
räthin ein Auftritt anderer Art stattgefundcn: Sie war von
ihren Kindern, denen sich auch jene der anderen Gäste an-
schlossen, bestürmt worden, die jungen Frenrdlinge diesen Tag
da zu behalten und erst morgen weiter ziehen zu lassen, was
sic nach kurzem Bedenken und unter dem Vorbehalt zugab,
daß Bärbel ebenfalls ihre Einwilligung nicht versage und die
n- Bärb e l.
verschiedenen Schwierigkeiten wegen Unterbringung für die
Nacht re. zu beseitigen wisse. Als die Alte nun wieder oben
erschien, war sie im Nu von dem jungen Volke umringt wor-
den, und sie müßte ein Herz von Stein gehabt haben, was, !
wie wir bereits wissen, keineswegs der Fall war, wenn sie !
all' den beweglichen Bitten und Vorstellungen hätte wider-
stehen können, die auf sie einstürinten. Und nun wurden j
Spielsachen herbei geholt für die kleineren Kinder, Isabelle j
aber zog das ältere fremde Mädchen in eine Ecke, und ließ sich
von ihm aus dem Wanderleben der Künstlerfamilie erzählen.
* *
Herr Sprandler hatte heute seiner Toilette eine größere
Aufmerksamkeit gewidmet, als er sonst zu thun gewohnt war,
namentlich aber der „zweifelhaften Schönheit" eine wahrhaft
rührende Sorgfalt angedeihen lassen, und dies mit so gutem
Erfolg, daß er bei einem letzten Blick in den Spiegel sich
ganz verwundert fragte: „Bin ich dieser solid aussehende Jüng-
ling da in dem Glase selbst, oder bin ich's nicht? Dann
nahm er seine Mappe und ging in den Garten hinab.
Die Dame war noch nicht da, in einer der Lauben aber
gewahrte er Zurüstungen zu einem Frühstück und ließ sich
auf einer nahestehenden Bank nieder.
„Bist du's, Sprandler, oder bist dus nicht?" fragte
er sich abermals. „Du, der schüchterne, vor jeder Frauen-
schürze die Flucht ergreifende Mensch, hast dich zu einem
lots ü tsts mit einer Dame eingefunden, und zwar mit einer
Miß, die trotz ihrer weißen Locken noch gar nicht so alt aus-
sieht, daß dein jungfräuliches Herz nicht in Gefahr gerathen
könnte; die ihrer ganzen Erscheinung nach zu den „Vor- j
nehmen" gehört, in deren Gesellschaft dich bisher stets das
unbehagliche Gefühl beschlichen, du taugest nicht daher mit
deinen naturwüchsigen Manieren, deiner kindlichen Harm-
losigkeit! Doch da kommt sie ja, die ehrwürdige Miß — I
wie hübsch sie ist! wie jugendlich!" Er erhob sich, der Dame ;
entgegen zu gehen, die in Begleitung ihres Kammerniädchens,
welches das Kaffeezeug trug, in den Garten trat.
„Schön, daß Sie Wort halten, Herr Maler!" rief sie
ihm zu, und reichte ihm die Hand. „Es thut mir leid,
daß ich Sie habe warten lassen, ich schlief aber heute beson-
ders gut, und in meinem Alter darf man sich schon ein wenig
Nachsehen. Gehen wir nun gleich zu unserem Frühstück,"
fuhr sie, in die Laube tretend, fort, „erst muß der Natur
ihr Recht werden, dann kommt die Kunst an die Reihe!"
Sie setzten sich an den kleinen, reichbesetzten Tisch und
Miß Brown bediente ihren Gast und sich selbst mit der ihr
eigenen graziösen Beweglichkeit. Sie hatte heute ein tief in i
den Scheitel gehendes Morgenhäubchen auf, die schönen Silber-
locken fehlten nicht, so frühe es auch war, und ein faltiges
Mousselingxwand umschloß die weichen Formen ihrer schlanken
Gestalt auf's Vortheilhafteste. Bei jedem Blick auf sein vis- !
a-v!s drängte sich unserem Maler wiederholt der Gedanke auf:
wie schön sie noch ist! und doch — diese auf ein reifes Alter
deutenden Haare! — wie alt mag sie wohl sein?!
n*
Die Ochse
das unruhige Bürschchen ihrem Herrn ab, der ohne ein Wort
zu entgegnen sich aus einen Stuhl sinken ließ und seine Arme
auf den Tisch stemmend, das Angesicht in die Hände begrub.
Lange, lange Jahre hatte Niemand es gewagt, den
Kinderlosen an seinen verlorenen Sohn zn erinnern, allein
sein Herz — und welches Vaterherz könnte es auch — ver-
gaß deshalb nicht. Ist es aber schon hart, ohne eigenes
Verschulden einsam im Leben zu stehen, nachdem man Eltern-
liebe und Elternsorge kennen gelernt, um wie viel schwerer
muß es nicht sein, wenn in das Wehe sich der Vorwurf
mischt: Du trägst die Folgen Deines eigenen Versäumnisses;
erst verwöhntest Du Dein Kind durch eine fast blinde Zärt-
lichkeit und niachtest sein junges Herz empfindlich für jedes
rauhe Wort, für jeden harten Blick; dann aber, als Du ihm
durch zweifache Sorgfalt das erkaltete Mutterherz hättest er-
setzen sollen, überließest Du das Verwaiste den Unbilden einer
lieblosen Stiefmutter, die mit ihrer schönen Außenseite, ihren
Schmeichelworten Dich bethört und Deine Augen blind ge-
macht hatte für den stillen Jammer — die Verzweiflung
Deines Lieblings, Deines Erstgeborenen.
Diese Gedanken mochten den unglücklichen Mann bei
der so lebhaften Mahnung an sein todtes Kind beschäftigt
haben, denn als er die Hände langsam vom Gesicht herab-
gleiten ließ, da rollten große Thräncntropfen über seine ge-
furchten Wangen hinab. Bärbel hatte mit dem Knaben leise
die Stube verlassen. Indessen hatte im Zimmer der Forst-
räthin ein Auftritt anderer Art stattgefundcn: Sie war von
ihren Kindern, denen sich auch jene der anderen Gäste an-
schlossen, bestürmt worden, die jungen Frenrdlinge diesen Tag
da zu behalten und erst morgen weiter ziehen zu lassen, was
sic nach kurzem Bedenken und unter dem Vorbehalt zugab,
daß Bärbel ebenfalls ihre Einwilligung nicht versage und die
n- Bärb e l.
verschiedenen Schwierigkeiten wegen Unterbringung für die
Nacht re. zu beseitigen wisse. Als die Alte nun wieder oben
erschien, war sie im Nu von dem jungen Volke umringt wor-
den, und sie müßte ein Herz von Stein gehabt haben, was, !
wie wir bereits wissen, keineswegs der Fall war, wenn sie !
all' den beweglichen Bitten und Vorstellungen hätte wider-
stehen können, die auf sie einstürinten. Und nun wurden j
Spielsachen herbei geholt für die kleineren Kinder, Isabelle j
aber zog das ältere fremde Mädchen in eine Ecke, und ließ sich
von ihm aus dem Wanderleben der Künstlerfamilie erzählen.
* *
Herr Sprandler hatte heute seiner Toilette eine größere
Aufmerksamkeit gewidmet, als er sonst zu thun gewohnt war,
namentlich aber der „zweifelhaften Schönheit" eine wahrhaft
rührende Sorgfalt angedeihen lassen, und dies mit so gutem
Erfolg, daß er bei einem letzten Blick in den Spiegel sich
ganz verwundert fragte: „Bin ich dieser solid aussehende Jüng-
ling da in dem Glase selbst, oder bin ich's nicht? Dann
nahm er seine Mappe und ging in den Garten hinab.
Die Dame war noch nicht da, in einer der Lauben aber
gewahrte er Zurüstungen zu einem Frühstück und ließ sich
auf einer nahestehenden Bank nieder.
„Bist du's, Sprandler, oder bist dus nicht?" fragte
er sich abermals. „Du, der schüchterne, vor jeder Frauen-
schürze die Flucht ergreifende Mensch, hast dich zu einem
lots ü tsts mit einer Dame eingefunden, und zwar mit einer
Miß, die trotz ihrer weißen Locken noch gar nicht so alt aus-
sieht, daß dein jungfräuliches Herz nicht in Gefahr gerathen
könnte; die ihrer ganzen Erscheinung nach zu den „Vor- j
nehmen" gehört, in deren Gesellschaft dich bisher stets das
unbehagliche Gefühl beschlichen, du taugest nicht daher mit
deinen naturwüchsigen Manieren, deiner kindlichen Harm-
losigkeit! Doch da kommt sie ja, die ehrwürdige Miß — I
wie hübsch sie ist! wie jugendlich!" Er erhob sich, der Dame ;
entgegen zu gehen, die in Begleitung ihres Kammerniädchens,
welches das Kaffeezeug trug, in den Garten trat.
„Schön, daß Sie Wort halten, Herr Maler!" rief sie
ihm zu, und reichte ihm die Hand. „Es thut mir leid,
daß ich Sie habe warten lassen, ich schlief aber heute beson-
ders gut, und in meinem Alter darf man sich schon ein wenig
Nachsehen. Gehen wir nun gleich zu unserem Frühstück,"
fuhr sie, in die Laube tretend, fort, „erst muß der Natur
ihr Recht werden, dann kommt die Kunst an die Reihe!"
Sie setzten sich an den kleinen, reichbesetzten Tisch und
Miß Brown bediente ihren Gast und sich selbst mit der ihr
eigenen graziösen Beweglichkeit. Sie hatte heute ein tief in i
den Scheitel gehendes Morgenhäubchen auf, die schönen Silber-
locken fehlten nicht, so frühe es auch war, und ein faltiges
Mousselingxwand umschloß die weichen Formen ihrer schlanken
Gestalt auf's Vortheilhafteste. Bei jedem Blick auf sein vis- !
a-v!s drängte sich unserem Maler wiederholt der Gedanke auf:
wie schön sie noch ist! und doch — diese auf ein reifes Alter
deutenden Haare! — wie alt mag sie wohl sein?!
n*
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Die Ochsen-Bärbel"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 51.1869, Nr. 1267, S. 131
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg