1905
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 1
(4) Schloß Pernstein.
singt, ein unmusikalischer
trotz aller Schulung immer
daneben. Unsre Zeit aber
ist den bildenden Künsten
gegenüber höchst unmusi-
kalisch. Es entstehen keine
Volkslieder mehr, nur noch
Gassenhauer.
Etwas ganz andres ist’s
mit der zweiten Gattung.
Während die erste uns von
dem poetischen Sinn und
Instinkt des Volkes erzählt,
(5) Rathaus in Frankenberg.
zeigt sie uns Bauwerke, welche aus dem Willen und Geschmack
einzelner Künstler hervorgegangen sind, läßt uns die Ideale ver-
gangener Kunstperioden und die Gesetze und Wege erkennen,
mittels deren sie erstrebt wurden. Nun ist es doch gewiß recht
sonderbar, daß uns bei diesen so malerischen und so gruppierten
Bauten als erste Regel etwas ins Auge springt, was der moderne
Gruppenkünstler möglichst vermeiden zu müssen glaubt: die
bösartigen! so zwar, daß dem Kunstfreund beim Anblick dieser
Karikaturen berechtigte Bedenken entstehen, ob es ein Glück
für uns ist, daß wir wieder so »malerisch« bauen gelernt haben,
und ob nicht die italienischen Kästen noch immer das kleinere
Übel waren; jedenfalls aber wird ihm klar, daß die Vorbilder,
welche unsre alten Meister uns hinterlassen
haben, nicht erfaßt und nicht erreicht sind.
Die alten Beispiele malerischen Grup-
penbaus! — welche Fülle von herzer-
quickenden Gesichten tut sich einem da
auf! Ist doch fast jedes Gebäude und
jedes Städtebild damit genannt, welches
wir aus vergangenen Zeiten herübergerettet
haben. Sehen wir genauer zu, so erkennen
wir bald, daß unsre Beispiele sich in zwei (6 und 7) Ait-Beriin.
ganz verschiedenartige Gattungen von Gruppenarchitektur zer-
legen lassen. Die eine Gattung wird gebildet von Baugruppen,
welche zufällig oder unter dem Druck der Verhältnisse geworden
sind; die andern von solchen, welche bewußt, beabsichtigt, ein-
heitlichgeplant und ausgeführt sind. Erstgenannte Art wird überall
und immer da entstehen, wo praktische Lebensforderungen unter
Symmetrie! Jawohl, symmetrisch waren sie einst alle geplant und
sind es im Kern noch heute, unsre romanischen Kaiserpfalzen,
unsre mittelalterlichen Burgen, unsre Rathäuser, unsre bürgerlichen
und bäuerischen Holzhäuser, unsre Edelsitze aus der Renaissance,
unsre Landhäuser aus der Zopfzeit (Abb. 1.5.8. 11.13.14.15.19).
~3L
Nun ist es allerdings um das Sym-
metriegefühl, welches hier herrscht, etwas
andres, als um das der Architekten lateini-
schen Geistes. Diese setzen die Symmetrie
über die Wahrheit. Die Symmetrie wird
durchgeführt auf Kosten der Räume, auf
Kosten der Wohnlichkeit, bis ins
kleinste Detail, konsequent, Achse
~ - um Achse, Stein um Stein. Der alte
Skizzen von e. Högg. deutsche Meister dagegen stellte
die Wahrheit, das praktische Bedürfnis, in erste Linie und seine
Kunst bestand darin, trotzdem den Eindruck der Symmetrie her-
vorzurufen, indem er an Stelle der Symmetrie der Linien diejenige
der Massen setzte, indem er die Teile nicht maß, sondern wog.
Zur Erläuterung dessen, was hiermit gesagt sein soll, ver-
gleiche man z.B. den Palazzo Pitti oder die Villa Medici (Abb. 16)
dem Zwang und Druck feindseliger Verhältnisse durchgesetzt
werden, im Beispiele deutlicher gesprochen: wo auf schmalem
Felsrücken eine Burg gegründet wird und allmählich zum knorri-
gen Bergnest verwächst (Abb. 2. 3. 4); oder wo in engem Stadt-
bezirk die Bürgerhäuser sich ineinanderschieben, immer höher
und immer dichter, bis sie schließlich über die Stadtmauer hinaus-
gepreßt werden (Abb. 9.10). Sie können auch heute noch in unsrer
polizeilich beaufsichtigten Zeit entstehen; ganz zufällig legt ein Ab-
bruch irgend eine Ecke frei und etwas lächelt uns an, als hätten
die Steine sich jener schönen Tage erinnert, da sie gar nicht anders
als malerisch sich schichten konnten (Abb. 6.7). Für gewöhnlich
entstehen solche zufälligen Schönheiten der Gruppe heute nicht
mehr. Es war einmal — warum? Nun, weil uns der künstlerische
Instinkt abhanden ge-
kommen ist. Und damit
wäre die oft vernommene
Frage beantwortet, ob
diese alten malerischen
Winkel und Architektur-
bilder zufällig oder ab-
sichtlich entstanden
sind: zufällig! Nur daß
die zufällige Lösung
immer eine erfreuliche
war, weil es den Bau-
leuten nicht anders mög-
lich gewesen ist, als
malerisch zu gestalten;
so wie ein musikalischer
Mensch auch ohne
Unterricht stets richtig
(8) Schloß Bruck bei Lienz. Skizze von E. Högg.
(9) Schwedenliof auf der Burg in Nürnberg.
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ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 1
(4) Schloß Pernstein.
singt, ein unmusikalischer
trotz aller Schulung immer
daneben. Unsre Zeit aber
ist den bildenden Künsten
gegenüber höchst unmusi-
kalisch. Es entstehen keine
Volkslieder mehr, nur noch
Gassenhauer.
Etwas ganz andres ist’s
mit der zweiten Gattung.
Während die erste uns von
dem poetischen Sinn und
Instinkt des Volkes erzählt,
(5) Rathaus in Frankenberg.
zeigt sie uns Bauwerke, welche aus dem Willen und Geschmack
einzelner Künstler hervorgegangen sind, läßt uns die Ideale ver-
gangener Kunstperioden und die Gesetze und Wege erkennen,
mittels deren sie erstrebt wurden. Nun ist es doch gewiß recht
sonderbar, daß uns bei diesen so malerischen und so gruppierten
Bauten als erste Regel etwas ins Auge springt, was der moderne
Gruppenkünstler möglichst vermeiden zu müssen glaubt: die
bösartigen! so zwar, daß dem Kunstfreund beim Anblick dieser
Karikaturen berechtigte Bedenken entstehen, ob es ein Glück
für uns ist, daß wir wieder so »malerisch« bauen gelernt haben,
und ob nicht die italienischen Kästen noch immer das kleinere
Übel waren; jedenfalls aber wird ihm klar, daß die Vorbilder,
welche unsre alten Meister uns hinterlassen
haben, nicht erfaßt und nicht erreicht sind.
Die alten Beispiele malerischen Grup-
penbaus! — welche Fülle von herzer-
quickenden Gesichten tut sich einem da
auf! Ist doch fast jedes Gebäude und
jedes Städtebild damit genannt, welches
wir aus vergangenen Zeiten herübergerettet
haben. Sehen wir genauer zu, so erkennen
wir bald, daß unsre Beispiele sich in zwei (6 und 7) Ait-Beriin.
ganz verschiedenartige Gattungen von Gruppenarchitektur zer-
legen lassen. Die eine Gattung wird gebildet von Baugruppen,
welche zufällig oder unter dem Druck der Verhältnisse geworden
sind; die andern von solchen, welche bewußt, beabsichtigt, ein-
heitlichgeplant und ausgeführt sind. Erstgenannte Art wird überall
und immer da entstehen, wo praktische Lebensforderungen unter
Symmetrie! Jawohl, symmetrisch waren sie einst alle geplant und
sind es im Kern noch heute, unsre romanischen Kaiserpfalzen,
unsre mittelalterlichen Burgen, unsre Rathäuser, unsre bürgerlichen
und bäuerischen Holzhäuser, unsre Edelsitze aus der Renaissance,
unsre Landhäuser aus der Zopfzeit (Abb. 1.5.8. 11.13.14.15.19).
~3L
Nun ist es allerdings um das Sym-
metriegefühl, welches hier herrscht, etwas
andres, als um das der Architekten lateini-
schen Geistes. Diese setzen die Symmetrie
über die Wahrheit. Die Symmetrie wird
durchgeführt auf Kosten der Räume, auf
Kosten der Wohnlichkeit, bis ins
kleinste Detail, konsequent, Achse
~ - um Achse, Stein um Stein. Der alte
Skizzen von e. Högg. deutsche Meister dagegen stellte
die Wahrheit, das praktische Bedürfnis, in erste Linie und seine
Kunst bestand darin, trotzdem den Eindruck der Symmetrie her-
vorzurufen, indem er an Stelle der Symmetrie der Linien diejenige
der Massen setzte, indem er die Teile nicht maß, sondern wog.
Zur Erläuterung dessen, was hiermit gesagt sein soll, ver-
gleiche man z.B. den Palazzo Pitti oder die Villa Medici (Abb. 16)
dem Zwang und Druck feindseliger Verhältnisse durchgesetzt
werden, im Beispiele deutlicher gesprochen: wo auf schmalem
Felsrücken eine Burg gegründet wird und allmählich zum knorri-
gen Bergnest verwächst (Abb. 2. 3. 4); oder wo in engem Stadt-
bezirk die Bürgerhäuser sich ineinanderschieben, immer höher
und immer dichter, bis sie schließlich über die Stadtmauer hinaus-
gepreßt werden (Abb. 9.10). Sie können auch heute noch in unsrer
polizeilich beaufsichtigten Zeit entstehen; ganz zufällig legt ein Ab-
bruch irgend eine Ecke frei und etwas lächelt uns an, als hätten
die Steine sich jener schönen Tage erinnert, da sie gar nicht anders
als malerisch sich schichten konnten (Abb. 6.7). Für gewöhnlich
entstehen solche zufälligen Schönheiten der Gruppe heute nicht
mehr. Es war einmal — warum? Nun, weil uns der künstlerische
Instinkt abhanden ge-
kommen ist. Und damit
wäre die oft vernommene
Frage beantwortet, ob
diese alten malerischen
Winkel und Architektur-
bilder zufällig oder ab-
sichtlich entstanden
sind: zufällig! Nur daß
die zufällige Lösung
immer eine erfreuliche
war, weil es den Bau-
leuten nicht anders mög-
lich gewesen ist, als
malerisch zu gestalten;
so wie ein musikalischer
Mensch auch ohne
Unterricht stets richtig
(8) Schloß Bruck bei Lienz. Skizze von E. Högg.
(9) Schwedenliof auf der Burg in Nürnberg.
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