1905
ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 1
(16) Villa Medici in Rom.
Heute
inner¬
fröhlich weiter
an dem Ge-
dichte aus
alter Zeit Die
Werke aber,
die derart ent-
standen, sind
diePerlen uns-
rer mittelalter-
lichen Archi-
tekturbilder.
Erinnert sei
nur an das
Heidelberger
Schloß, oder
d5-'' /
(17) Rothenburger Tor in Dinkelsbühl.
Aufgenommen von Architekt Carl Sickel in Berlin.
(14) Jöchelturm in Sterzing.
an das Halberstädter Rathaus, oder an das Breslauer Rathaus.
Neben solchen Glanzleistungen entstanden aber auch in beschei-
denen Verhältnissen ungezählte verwandte Anlagen in unsern
Burgen, unsern Klöstern, unsern Landstädtchen (Abb. 22).
Gerade diese letztbeschriebene Art gruppierter Architektur
nun ist es, welche unsern
modernen Architekten zu¬
nächstanziehend erschien
und welche sie also am
meisten nachahmen, just
diejenige Art also, die am
wenigsten dazu paßt: Ge¬
bilde, die allein schon in
ihrer geschichtlichen Ent¬
stehung Reiz für uns ha¬
ben, Gebilde, die niemals
ein einzelner Künstler so
fertig gebracht hätte, wie
sie sind, die nur dadurch
möglich sind, daß eine
Reihe tüchtiger Meister
nacheinander in langer
Arbeit ihr Bestes gegeben,
einander ergänzt und
überboten haben.
will ein einzelner
halb Jahresfrist dieselbe
Arbeit leisten. Jeder Bu¬
reauchef weiß, wie dankbar und fördernd es ist, an die vor-
handene Arbeit andrer die bessernde, sichtende Hand zu legen
(nebenbei das Geheimnis der künstlerischen Leistungsfähigkeit
unsrer modernen, fa-
brikmäßig geleiteten
Architekturbetriebe!).
Wenn das schon auf
dem Papier so ist, wie
viel mehr noch vor
dem fertigen Bau, vor
dem naturgroßen Mo-
dell! Das war dann
freilich keine Papier-
und Reißschienen-
kunst, wie wir sie
meist treiben, sondern
Raumkunst schönster
Art. Die Alten dich-
teten, wir übersetzen.
Sie dichteten wohl
auch an einem alten
Lied noch weiter, und
das war naiv und die
Naivität versöhnte mit
dem Wechsel im Aus-
druck. Wenn man
das heute nachmacht
und einen Bau zusam-
menschiebt aus Teilen
(18) Das Kätclienhaus in Heilbronn.
(15) Schloß in Waldmannshofen bei Creglingen.
aller möglichen Stilarten, so finden wir das zunächst höchst
originell. Was aber würden wir von einem Gelehrten sagen,
der den Einfall bekäme,
ein Lied griechisch anzu-
fangen, lateinisch fortzu-
setzen und hebräisch zu
beschließen!
Unsre Zeit also ist
geneigt, jenen Vorbildern
nachzustreben, welche
ihr so regellos erscheinen,
daß sie zunächst glaubt,
auf jedes ästhetische Ge-
setz verzichten zu können,
wenn sieÄhnliches schaf-
fen will. Bald aber merkt
der Architekt, daß es mit
dem Zusammentragen
und Zusammenkitten von
alten Motiven, Giebeln,
Erkern, steilen und flachen
Dächern, großen und
kleinen Fenstern denn
doch nicht getan ist; so
recht malerisch will die
Sache nicht werden, wenigstens setzt sich nie ein Maler davor,
sie abzumalen. Sonderbar! Und doch fängt der moderne Architekt
schon beim Grundriß an: dieser wird dadurch »malerisch« ge-
macht, daß man
möglichst jeden
Raum gegen
sämtliche übrige
vor oder zurück¬
schiebt, so daß
der wohlbe¬
kannte Villa¬
grundriß ent¬
steht, ein Schema,
welches aber
auchtuulichstauf
Stadthäuser an¬
gewandt und bei
Schlössern mit
Stallungen, Por¬
tierhaus u. s. w.
auf die Spitze ge¬
trieben wird. Wer
schon Gelegen¬
heit hatte, als Leh¬
rer unsrer studie¬
renden Jugend zu
beobachten, wie
der jungeStudent
solche falschen
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ARCHITEKTONISCHE RUNDSCHAU
Heft 1
(16) Villa Medici in Rom.
Heute
inner¬
fröhlich weiter
an dem Ge-
dichte aus
alter Zeit Die
Werke aber,
die derart ent-
standen, sind
diePerlen uns-
rer mittelalter-
lichen Archi-
tekturbilder.
Erinnert sei
nur an das
Heidelberger
Schloß, oder
d5-'' /
(17) Rothenburger Tor in Dinkelsbühl.
Aufgenommen von Architekt Carl Sickel in Berlin.
(14) Jöchelturm in Sterzing.
an das Halberstädter Rathaus, oder an das Breslauer Rathaus.
Neben solchen Glanzleistungen entstanden aber auch in beschei-
denen Verhältnissen ungezählte verwandte Anlagen in unsern
Burgen, unsern Klöstern, unsern Landstädtchen (Abb. 22).
Gerade diese letztbeschriebene Art gruppierter Architektur
nun ist es, welche unsern
modernen Architekten zu¬
nächstanziehend erschien
und welche sie also am
meisten nachahmen, just
diejenige Art also, die am
wenigsten dazu paßt: Ge¬
bilde, die allein schon in
ihrer geschichtlichen Ent¬
stehung Reiz für uns ha¬
ben, Gebilde, die niemals
ein einzelner Künstler so
fertig gebracht hätte, wie
sie sind, die nur dadurch
möglich sind, daß eine
Reihe tüchtiger Meister
nacheinander in langer
Arbeit ihr Bestes gegeben,
einander ergänzt und
überboten haben.
will ein einzelner
halb Jahresfrist dieselbe
Arbeit leisten. Jeder Bu¬
reauchef weiß, wie dankbar und fördernd es ist, an die vor-
handene Arbeit andrer die bessernde, sichtende Hand zu legen
(nebenbei das Geheimnis der künstlerischen Leistungsfähigkeit
unsrer modernen, fa-
brikmäßig geleiteten
Architekturbetriebe!).
Wenn das schon auf
dem Papier so ist, wie
viel mehr noch vor
dem fertigen Bau, vor
dem naturgroßen Mo-
dell! Das war dann
freilich keine Papier-
und Reißschienen-
kunst, wie wir sie
meist treiben, sondern
Raumkunst schönster
Art. Die Alten dich-
teten, wir übersetzen.
Sie dichteten wohl
auch an einem alten
Lied noch weiter, und
das war naiv und die
Naivität versöhnte mit
dem Wechsel im Aus-
druck. Wenn man
das heute nachmacht
und einen Bau zusam-
menschiebt aus Teilen
(18) Das Kätclienhaus in Heilbronn.
(15) Schloß in Waldmannshofen bei Creglingen.
aller möglichen Stilarten, so finden wir das zunächst höchst
originell. Was aber würden wir von einem Gelehrten sagen,
der den Einfall bekäme,
ein Lied griechisch anzu-
fangen, lateinisch fortzu-
setzen und hebräisch zu
beschließen!
Unsre Zeit also ist
geneigt, jenen Vorbildern
nachzustreben, welche
ihr so regellos erscheinen,
daß sie zunächst glaubt,
auf jedes ästhetische Ge-
setz verzichten zu können,
wenn sieÄhnliches schaf-
fen will. Bald aber merkt
der Architekt, daß es mit
dem Zusammentragen
und Zusammenkitten von
alten Motiven, Giebeln,
Erkern, steilen und flachen
Dächern, großen und
kleinen Fenstern denn
doch nicht getan ist; so
recht malerisch will die
Sache nicht werden, wenigstens setzt sich nie ein Maler davor,
sie abzumalen. Sonderbar! Und doch fängt der moderne Architekt
schon beim Grundriß an: dieser wird dadurch »malerisch« ge-
macht, daß man
möglichst jeden
Raum gegen
sämtliche übrige
vor oder zurück¬
schiebt, so daß
der wohlbe¬
kannte Villa¬
grundriß ent¬
steht, ein Schema,
welches aber
auchtuulichstauf
Stadthäuser an¬
gewandt und bei
Schlössern mit
Stallungen, Por¬
tierhaus u. s. w.
auf die Spitze ge¬
trieben wird. Wer
schon Gelegen¬
heit hatte, als Leh¬
rer unsrer studie¬
renden Jugend zu
beobachten, wie
der jungeStudent
solche falschen
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