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Hrst 1.

glaubte er eine, das Brüllen der Brandung übertönende
Frauenstimme zu unterscheiden, in der sich Bedrängniß
verrieth, und bis aufs Aeußerste beschleunigte er seine
Eile. Bald darauf stand er hart am Rande des oberen
Abhanges. Begünstigt durch das gerade herrschende
Mondlicht, sah er auf die etwa zehn Fuß tiefer liegende
breite Abstufung hinunter; was er dort aber mit einein
einzigen Blick erfaßte, machte ihm das Blut in den
Adern gerinnen.
Zwei Männer hatten den Schiffbrüchigen an den
Füßen gepackt und schleppten ihn nach dem Plateau-
rande hinüber, offenbar in der Absicht, ihn in die
Brandung hinabzustoßen. Ein Dritter hielt Evchens
Mutter, die, verzweiflungsvoll mit ihm ringend, laut
um Hilfe schrie. Der junge Wanderer hörte noch,
daß einer der Ersteren dem mit der Frau beschäftigten
Genossen zurief: „Stopf ihr den Mund, oder sie lockt
uns den Teufel auf den Hals!" und mit dem letzten
Wort fiel das Geräusch zusammen, unter welchem er
von oben herab neben den Räuber hinsprang und den
keines Angriffs Gewärtigen mit seinem Ziegenhainer
so heftig über den Kopf schlug, daß er betäubt zur
Seite schwankte.
„Hier heran, Jochen!" rief er mit wunderbarer
Geistesgegenwart gellend aus, indem er auf die beiden
anderen Verbrecher einstürmte, die mit ihrem Opfer
nur noch einige Schritte von der überquellenden Brandung
entfernt waren, „Friedrich! Mehr rechts! Packt sie!
Hubert — schießen Sie!"
Weitere Drohungen waren überflüssig. Die Strolche
bezweifelten nicht, daß sie umstellt seien, mochten auch
fürchten, in der Hellen Beleuchtung ihre Gesichter zu
zeigen. Von derü Schiffbrüchigen ablassend, folgten
sie dem bereits voraus geflüchteten Genossen den Abhang
hinauf, wo sie alsbald im Walde verschwanden. Einige
Rufe sandte der junge Wanderer noch hinter ihnen
her; dann kehrte er sich der vor Entsetzen halb ohn-
mächtigen FVcru zu. Von ihr gekannt, gelang es ihm
leichter, sie einigermaßen zu beruhigen, und ungesäumt
gingen sie an's Werk, den Verunglückten aus dem
Bereich der größten Gefahr zu schaffen. Mühsam zogen
und trugen sie die schwere Last bis an den Fuß des
oberen Abhanges, wo die Weiterbeförderung ihre Kräfte
überstieg, und sie daher ihren ganzen Eifer auf Wieder-
belebungsversuche verwendeten. In demselben Maße
aber, in welchem sie den matten Pulsschlag des Be-
wußtlosen deutlicher fühlten, erhöhten sie ihre An-
strengungen, wuchs ihr Vertrauen, ihn dem Leben zu
erhalten. Zugleich schilderte die noch immer furchtbar
erregte Frau in kurzen Umrissen die Gefahr, in welcher
sie geschwebt, und der sie nur wie durch ein Wunder
entronnen war.
Auf dem Wege nach dem heimathlichen Dorf war
sie mit ihrem Töchterchen gerade oberhalb der Ab-
stufung eingetroffen, als ihr Blick eine brausende Woge
streifte, die, von wüthenden Nachfolgerinnen bedrängt,
hoch über alle anderen hinauswuchs. Von Grauen
beschlichen, überwachte sie das Herbeirollen des mit
weiß leuchtendem Schaum gekrönten Wasserhügels. Der
durch eine Wolkenöffnung hindurchlugende Mond er-
möglichte es ihr, die mächtige See in ihren Umrissen
genau zu unterscheiden. Plötzlich, als die Riesenwoge
eben im Begriffe war, auf die Abstufung herein zu
stürzen, entdeckte sie auf deren zischendem Kamm einen
schwarzen Gegenstand, anscheinend ein größeres Boot.
In der nächsten Sekunde zitterte und dröhnte der Erd-
boden unter der Wucht, mit welcher die schwere Dünung
in sich zusammenbrach und die Abstufung in ganzer
Ausdehnung brüllend und zischend überschüttete. Krachen
und Splittern folgte; der schwarze Gegenstand löste
sich gleichsam auf, und als der brausende Gischtberg
zurückströmte, trug er auf seinem Rücken die Planken,
Rippen und Bretter eines zerschellten Fahrzeugs.
Die Frau war stehen geblieben. Ihr furchtloses
Töchterchen an der Hand, sah sie ängstlich auf die
wieder von: Wasser freie Abstufung nieder. Kaum
aber unterschieden ihre spähenden Blicke eine von den
Fluthen zurückgelassene menschliche Gestalt, als sie in
dem dumpfen Drange, zu retten, wenn noch etwas zu
retten sei, hinunter stieg und und neben dem Ver-
unglückten niederkniete.
Sie überzeugte sich, daß noch Wärme in dem an-
scheinend leblosen Körper wohnte. Sie glaubte sogar,
leise Pulsschläge zu fühlen, und schnell entschlossen,
rief sie zu ihrem Töchterchen hinauf, schleunigst nach
dem Dorf zu eilen.
Die Kleine war noch nicht weit gegangen, als rauhe
Stimmen die Blicke der Frau nach oben lenkten. Auf
die dringende Bitte, ihr beizustehen, gesellten drei
Männer sich ihr zu. Ihre Aufforderung, den Be-
wußtlosen hinaufzutragen, ließen sie unbeachtet; dagegen
beschäftigten sie sich eingehender mit einer Kiste, die
ebenfalls nach Abfließen der Dünung in der Nähe des
Schiffbrüchigen liegen geblieben war. Von geringem Um-
fange, jedoch fest gefügt und mit zwei Holzgriffen versehen,
hatte sie durch ihr unverhültnißmüßig schweres Gewicht
offenbar ihre Raubgier wachgerufen. Eine Weile sprachen
sic gedämpft zueinander; dann beantworteten sie die

Das Buch für Alle.
erneute Bitte um Hilfe dadurch, daß zwei von ihnen
den Verunglückten fortschleppten, wogegen der Dritte
sich der laut aufjammernden Frau bemächtigte. Der
junge Wanderer durfte also keine Minute später er-
scheinen, oder er hätte die feuchte Abstufung vollständig
verödet gefunden.
Während dieser Mittheilungen setzten die beiden
befreundeten Gestalten ihre Mühen um den Bewußt-
losen mit unvermindertem Eifer fort. Sie rieben ihm
Schläfen und Brust, drehten ihn mitleidig bald auf
die eine, bald auf die andere Seite, immer wieder den
Herzschlag prüfend, der unzweifelhaft an Stärke gewann,
lind zu dem treuen Samariterwerk heulte der Sturm,
brüllte und dröhnte die Brandung ungeschwächt weiter.
Es war, als hätte die rasende See zu den bereits ver-
schlungenen Opfern herrisch noch andere gefordert. Doch
so weit sie ihre beweglichen Schaumarine ausstrecken
mochte: nach der Abstufung reichten sie nicht mehr hinauf.
Endlich, endlich — eine Stunde war seit dem Ver-
jagen der Strandrüuber verstrichen — tönte von oben
zu den rege Beschäftigten nieder: „Frau Quandt! Sind
Sie noch da?"
„Da und wohlbehalten!" antwortete diese, und wie
von einer erdrückenden Last befreit, athmete sie auf;
„Herr Lionel v. Radelhain befindet sich bei'mir, Gott
sei Dank! Aber mein Kind, mein Evchen —"
„Ebenfalls munter," hieß es einfallend, „sitzt beim
Schulzen hinter dem warmen Ofen und pflegt sich mit
dem Besten!"
„Dann herbei mit euch! Der Aermste hier muß
aus der Nässe heraus, oder er erstarrt uns unter den
Händen, bevor das Bewußtsein zurückkehrt!"
Mehrere Männer glitten den Abhang hinunter, und
ohne Zeitverlust schaffte man den Schiffbrüchigen sammt
der Kiste nach oben. Dort trug man ihn nach dem
auf dem Fahrwege haltenden Wagen hinüber, wo man
ihn hinter Schutz gewährendes Buschwerk nicderlegte.
Schnell wurde er der nassen Kleider entledigt und in
wollene Decken eingeschlagen. Doch erst nachdem man
ihm etwas Branntwein eingeflößt hatte, bettete man
ihn in das den Ackerwagen füllende Stroh. Frau
Quandt und Lionel setzten sich zu ihin. Der Eigen-
thümer des Fuhrwerks ergriff Leine und Peitsche und
mit gemüßigter Eile ging eS dem Dorfe zu.
Frau Quandt, jetzt Wittwe, hatte nach dem Tode
ihres Mannes, der lange Jahre auf der Herrschaft des
alten Herrn v. Radelhain als Verwalter gedient, ein
von dein Gutshofe nicht allzuweit entferntes Kirchdorf
zu ihren: Aufenthalt gewählt. Dort lebte sie mit ihrer
Tochter, dem einzigen ihr gebliebenen Kinde, in einem
bäuerlichen Häuschen, durch die Zinsen eines mühsam
ersparten Kapitälchens, wie durch ein von dem Herrn
v. Radelhain ihr ausgesetztes kleines Wittwengehalt gegen
äußere Noth, geschützt. Auf den Wunsch Lionel's, der
unter ihren Augen aufgewachsen war, erklärte sie sich
bereit, den Schiffbrüchigen bei sich aufzunehmen und
ihm die entsprechende Pflege angedeihen zu lassen.
Eine freundlich eingerichtete Kammer war es, in der
man ihn bettete. Dann dauerte es nicht lange, bis
der erstarrte Körper sich unter den fortgesetzten Be-
mühungen vollständig erwärmte, und der Schiffbrüchige
endlich mit einem tiefen Seufzer aus seiner Bewußt-
losigkeit erwachte. Die in den geisterhaft blickenden
Augen sich offenbarende Unruhe beschwichtigte Lionel,
indem er ihn: mit kurzen Worten die Art seiner Rettung
schilderte. Hieran schloß er die Betheuerung, daß er
sich bei guten Leuten befinde und bis zu seiner gänzlichen
Wiederherstellung die aufmerksamste Pflege zu gewär-
tigen habe.
Fragend sah der Fremde auf den frischen jungen
Mann, dessen Oberlippe ein weiches Bärtchen schmüffte,
fragend auf Frau Quandt, deren mitleidige Augen mit
einem sprechenden Ausdruck der Herzensgüte auf ihm
ruhten, dann sank er in das dumpfe Traumleben zurück.
Nach einer längeren Pause lispelte er: „Fürchterliche
Stunden waren es. Das Schiff sah ich in dem Gischt
versinken — nichts gerettet, als das nackte Leben. Dem
Zufall verdanke ich, daß ich in eines der in's Wasser
gelassenen Boote gelangte — die anderen verschlang das
Meer mit allen darin Befindlichen vor meinen Augen —
weshalb mußte ich der einzige Ueberlebcnde sein!"
„Eine Kiste wurde mit Ihnen zugleich aufs Trockne
geworfen," versetzte Lionel, um ihn tröstlich zu beein-
flussen, und er wies auf den bezeichneten Behälter,
den man neben der Thür aufrecht hingestellt hatte.
Der Fremde öffnete die Augen weit. Unglaube,
Ringen nach Klarheit sprach aus ihnen.' Plötzlich
röthete sein Antlitz sich leicht, um indessen bald wieder
zu erblassen.
„Gerade das Werthloseste der ganzen Ladung blieb
vor dem Untergange bewahrt," sprach er zögernd. „Eine
Kiste Gewehrpatronen ist es — Sie sehen es an der
festen Verpackung — man warf sie als Ballast in das
Boot. Um Unglück zu verhüten, muß vorsichtig damit
umgegangen werden. Sobald ich mich rühren kann,
werde ich selbst sie öffnen und den Inhalt beseitigen."
„Hier ist auch Ihre Börse," fuhr Lionel fort, einen
mit Gold gefüllten Lederbeutel von dem neben dem

Bett stehenden Schemel nehmend und dem Fremden
vor Augen haltend, „als wrr Sie entkleideten, fiel sie
mir in die Hände. Sie ist schon etwas getrocknet."
Als Erwiederung folgte herbes Lächeln, dem sich
die Worte anschlossen: „Was soll mir das? Freilich,
der Mensch will leben und sich kleiden —" verstört
griff er nach seinem Halse. Wie nach etwas suchend
betastete er ihn. Tiefe Besorgnis;, sogar Angst prägte
sich in seinen Zügen aus.
Lionel verstand die Bewegung. Den Lederbeutel
legte er zur Seite, um eine Goldmünze von der Größe
eines Silberdollars in den Schein der Lampe zu heben.
Durch den mit ihr vereinigten Ring lief eine starke
seidene Schnur, deren beide Enden zusammengeknotet
worden.
Bei deren Anblick belebte sich das bleiche Gesicht
des Fremden wieder, und aus überströmendem Herzen
emporgesendet, tönte durch das stille Gemach: „Was
ich verloren haben mag: die Schaumünze blieb mir
wenigstens; da will ich nicht klagen," und in Lionel's
Antlitz Befremden entdeckend, fügte er mit einem An-
fluge von Verlegenheit hinzu: „Ein theures Andenken,
dem auf Grund eines vor Jahrhunderten ertheilten
Segens eine wohlthätige Kraft innewohnen soll. Ich
erhielt es als eine Art Talisman von Jemand, der
mich auch in der Ferne von höheren Gewalten beschütz:
wissen wollte. Ein kindlicher Glaube, mögen Sie viel-
leicht denken — und doch erzeugt es bei einer etwas
geschmeidigeren Phantasie fast den Eindruck, als hätte
ich ihm meine Rettung aus dem Schiffbruch zu ver-
danken. Sie werden meine Pietät nicht verdammen,
wenn ich Sie bitte, die Schnur mir wieder um den
Hals zu legen."
Bereitwillig erfüllte Lionel diesen Wunsch. Der
Fremde lächelte dankbar. Nach der langen Erklärung
erschöpft, jedoch merklich ruhiger, schloß er die Augen
wieder, jetzt aber, um in einen festen Schlaf zu ver-
sinken. Frau Quandt, die ihre Tochter längst zur
Ruhe gebracht hatte, ließ sich in der Nähe des Bettes
auf einem Stuhle nieder. Bevor Lionel sich zur Heim-
kehr nach dem väterlichen Landsitz rüstete, wo er nach
mehrmonatlicher Abwesenheit durch seine Ankunft zu
überraschen gedachte, betrachtete er den Fremden lange
mit ernster Theilnahme. Dieser war ein großer Mann
von vierzig und einigen Jahren. Das wohlgebildete
Gesicht erschien wie Marmor im Gegensatz zu den
schwarzen Brauen und Wimpern wie dem dunklen Haupt-
haar und ähnlichem, unter der Scheers gehaltenem Voll-
bart. Die auf der Decke ruhenden Hände waren schlank
und weiß. Schwere Arbeit schien ihnen wenigstens seit
längerer Zeit fremd geblieben zu sein.
„Sollte es Ihnen zu viel werden," kehrte Lionel
sich Frau Quandt zu, „so gestehen Sie es offen, und
er wird, sobald sein Zustand es erlaubt, nach meinem
elterlichen Hause abgeholt werden."
„Ich leitete den ersten Schritt zu seiner Rettung
ein, da möchte ich schon allein um des Beispiels für
Evchen willen das begonnene Werk auch vollenden,"
antwortete Frau Quandt. Sie reichte dein jungen
Manne die Hand zum Abschied, und in der nächsten
Minute trat er geräuschlos in's Freie hinaus.
Der Sturm tobte noch immer, aber seine Haupt-
gewalt war gebrochen. Das Brüllen und Grollen der
einmal wachgerüttelten See dauerte dagegen unver-
ändert fort. Sie bedurfte, wie ein gezüchtigtes, noch
lange nachher krampfhaft schluchzendes Kind, der Zeit,
um sich zu ebnen, die ausgetretenen Gewässer wieder
in ihren Schoß aufzunehmen.
Tiefer zog Lionel das Haupt in den emporgeschlagenen
Rockkragen zurück. Ihn fröstelte nach der in ununter-
brochener Aufregung durchlebten Nacht. Der Morgen
war nicht mehr fern. Ein scharf begrenzter Orange-
streifen im Osten verkündete seine Nähe.

Am vierten Tage nach der Sturmnacht verließ der
Schiffbrüchige zum ersten Male das Bett. Lionel, der
täglich herübergeritten kam, war gerade anwesend.
Hatte Jener in seinem hilflosen Zustande bereits einen
günstigen Eindruck auf ihn ausgeübt, so flößte er ihm
jetzt, da er vor ihm stand, eine gewisse Achtung ein.
Wie seine kraftvolle Gestalt Wohlgefallen erregte, ver-
riethen Haltung und Wesen nicht minder einen höheren
Grad geistiger Bildung. An Schwermut!; grenzender
Ernst wohnte in seinen klugen, dunkelblauen Augen,
beinahe düstere Entschiedenheit umlagerte die unter dem
starken Schnurrbart verschwindenden, gewöhnlich fest
aufeinander ruhenden Lippen. Jonas nannte er sich,
mit einem bezeichnenden Lächeln hinzufügend, daß er,
ähnlich jenem Propheten, vom Meere gleichsam aus-
gespien worden sei.
Schneller gewann er von da ab seine Kräfte zurück,
so daß er binnen kurzer Frist die Nachbarschaft in
weitem Umkreise zu durchstreifen vermochte. So oft er
einen Ausflug unternahm, füllte er seine Taschen mit
Packeten aus der fest verschraubt gehaltenen Patronen-
kiste, um sie im Walde an sicherem Ort zu verscharren.
Endlich verschwand auch die Kiste selber, ohne daß eS
von irgend Jemand beachtet worden wäre.
 
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