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in dem Bewußtsein, daß bei einem Manne das Pflicht-
gefühl stärker sein soll, als die heiligsten HerzenS-
regungen. Gleichsam als Bettler ziehe ich in die Welt
hinaus, jedoch nicht muthlos. Ich bin indessen darauf
gefaßt, daß, wenn überhaupt, viele Jahre darüber Hin-
gehen, bevor ich daran denken kann, die heiinathliche Erde
noch einmal zu betreten. Darin liegt zugleich die Er-
klärung dafür, daß unser heutiges Scheiden wohl ein
solches auf ewig sein wird."
Konstanze hatte sich abgewendet. Sie war bleich
geworden, wollte verheimlichen, daß Thränen in ihren
Augen zusammenliefen. Erst nach einer Pause war sie
fähig, äußerlich leidenschaftslos zu erwiedern: „Was
ich jetzt sage, kann nur die aufrichtigste, durch zahllose
Beweise geheiligte treue Zuneigung mir erpressen. Und
so frage ich Dich zagenden Herzens: wäre es denn ein
Fehl, wenn Du auf Grund unserer gegenseitigen An-
hänglichkeit, auf Grund der Achtung, die meine Eltern
Dir zollen, dennoch den Versuch unternähmest, wieder
in den Besitz des Erbes Deiner Vorfahren —"
„Konstanze, halte ein!" rief Lionel bestürzt aus,
„vollende nicht, was mich beleidigen muß. Trübe nicht
das Bild, das ich von Dir mit in die Ferne nehme,
indem Du mich durch einen Vorschlag erniedrigst, der
unmöglich in Deinem eigenen Kopfe entstanden sein kann,
selbst dadurch nicht entschuldigt wird, daß Dein Herz
dabei mitspricht. Denn zwischen uns gähnt eine Kluft,
die durch nichts überbrückt werden kann, nicht durch die
heißeste Liebe, nicht durch die glühendste Opferwilligkeit.
Wurde mir Alles geraubt, so blieb mir wenigstens ein
unantastbares Gut in den: Stolz, der mir verbietet, in
die Rolle eines elenden Abenteurers einzutreten, um
den Preis der Selbstachtung nach einein Glück zu Haschen
— und Dein Besitz wäre ja ein namenloses Glück —
welches auf mein ganzes Leben bis zum letzten Athem-
zuge einen finsteren Schatten würfe."
Konstanze preßte die Hand auf's Herz. In diesen
Minuten kannte sie nur unverfälschte, hingebende Liebe,
und von dieser durchdrungen, sprach sie mit bebenden
Lippen: „Deinen Stolz fürchtete ich ; ihn zu tadeln liegt
mir dagegen fern. Aber es gibt einen Weg, auf dein
die endliche Erfüllung unserer einstigen Hoffnungen in
den Bereich der Wahrscheinlichkeit — o, mehr noch: der
Gewißheit getragen werden kann, ohne daß Du deshalb
das Urtheil der Menschen zu scheuen brauchtest — bitte,
unterbrich mich nicht. Laß mich ausreden, ich beschwöre
Dich darum bei dein hingebenden Vertrauen, das so
lange zwischen uns waltete. Ich schicke voraus: was
vor Dir zu offenbaren ich im Begriff stehe, wurde
nicht in meinen: Kopfe geboren — woher hätte bei
meinem Bangen und Sorgen um Dich der Raum für
Berechnungen kommen sollen —"
„Es muß also auf Deinen Vater zurückgeführt
werden?" fiel Lionel rauh ein, und beim besten Willen
vermochte er nicht, eine gewisse Geringschätzung aus
seiner Stimme auszuscheiden.
„Ja, auf ihn," antwortete Konstanze verletzt. „Hin-
sichtlich seiner Erziehung kann er sich allerdings nicht
mit Männern aus Deinen Kreisen messen. Etwas
besitzt er dagegen, was nicht durch vornehme Manieren,
nicht durch Reichthum oder hochklingende Namen ge-
schaffen oder ersetzt werden kann, und das ist die Liebe
zu seiner Tochter, seinem einzigen Kinde."
„So weiß er um die zwischen uns bestehenden Be-
ziehungen?"
„Sollten die Augen der Eltern nicht mindestens
ebenso scharf sein, wie die anderer'Leute? Sollten sie
nicht ahnen, was inan sich allerwärtS unstreitig zuraunte?
Darüber gesprochen hat der Vater zwar nie zu mir;
allein aus" dein Auftrage, den er mir für Dich ertheilte,
geht verständlich hervor, daß er sich eifrig mit einem
Plane beschäftigte, daraus hinzielend, das Glück seiner
Tochter zu begründen und zu sichern. Und jetzt höre;
höre aber mit dem Herzen, nicht allein mit dem
kalt erwägenden Verstände. Ich soll Dir nämlich nahe
legen, einen engeren Geschäftsverkehr mit ihm dadurch
einzuleiten, daß Du ihm das Vorwerk zu einein Preise
verpachtest, der von Anbeginn nach dem muthmaßlichen
Ertrage des kommenden vierten Jahres berechnet werden
soll. Zu dem Pachtzins zählt die Verpflichtung, die
Gebäude, namentlich das Wohnhaus, zu erneuern. Für
Deine Person räth er Dir, als Regierungsassessor zu
Deinem Beruf zurückzukehren. Solltest Du indessen
nach Fertigstellung des Gehöftes das freie Landleben
dein Aufenthalt in der Stadt vorziehen, so würde er
Dich als Nachbar hoch willkommen heißen. So lau-
teten seine Worte, die freundlich verheißend für mich
klangen; doch auch Dir nur als ein Beweis seines auf-
richtigen Wohlwollens gelten können."
„Die Gründe, die ihn zu solchem Vorschläge be-
wegen, zu beurtheilen, unternehme ich nicht, zumal er
mir gegenüber das Vorwerk als werthlos bezeichnete,"
versetzte Lionel wiederum hart; „wohl aber mag ich
fragen: weshalb trat er mit solchen Bedingungen
nicht vor meinen Vater hin? Weshalb — weshalb —"
er brach ab. Wie um eine schwere Anklage zurück zu
drängen, preßte er die Lippen aufmrander, fuhr aber als-
bald wieder fort: „Ich meine, er mußtedoch nur besten
Das Buch fü r A l l e.
wissen, zu welcher Entsagung, zu welchen Einschrän-
kungen, sogar Entbehrungen der alte Herr gezwungen
war."
„Er fürchtete seinen unnahbaren Stolz, ich weiß eS,
mußte gewärtigen, schroff abgewiesen zu werden. Viel-
leicht schwebte ihm die Möglichkeit vor, durch ein ein-
ziges unbedachtes Wort Deinen Vater zu einem Aus-
spruch zu reizen, der sich feindselig zwischen uns Beide
gedrängt hatte."
„Wenn er den Stolz des Vaters fürchtete, durfte
er da voraussetzen, daß der des Sohnes hinfälliger sei?"
fragte Lionel, und Konstanze glaubte abermals ver-
steckten Hohn aus seiner Stimme herauszuhören; „um
Dich zu gewinnen, hätte ich den Kampf mit Himmel
und Hölle ausgenommen, das betheuere ich Dir bei
meinen: höchsten Gut, bei meiner Ehre; allein um mich
zu einer Handlungsweise zu verstehen, die nichts An-
deres bedeutet, als den Mangel des sittlichen Gefühls
in der Oeffentlichkeit zu bemänteln — nein, lieber will
ich in der Fremde nut Noth und Elend kämpfen, hinter
einem Zaun verenden und zu den Verschollenen gezählt
werden. Das sage Deinem Vater Wort für Wort.
Wuchs er in einfachen Sitten auf, was ihn: sicher nicht
zum Vorwurf gereicht, so hindert ihn das nicht, mich
vollkommen zu verstehen," und feindselig klangen die
letzten Worte, daß Konstanze vor ihm zurückbebte.
„Lionel!" rief sie klagend aus, „Du bist nicht auf-
richtig. Andere Dinge sind es, aus denen Du einen
Vorwurf für ihn herleitest. Vertraue es nur un-
geschminkt an. Unmöglich kannst Du ihn für das auf
Dich hereingebrochcne Verhängnis; verantwortlich machen
wollen, ebensowenig die Gesinnungen unterschützen, die ihn
zu der von mir überbrachten Botschaft bestimmten."
Finster sah Lionel ii: die ihn bange überwachenden
Augen. In seinen Zügen verrietst sich der Kampf, der
in seinen: Inneren tobte, während er sich gewaltsam
gegen den ihn wieder umschlingenden Zauber des
schönen Mädchens auflehnte. Erst nach längerem
Schwanken begann er mit seltsam veränderter Stimme:
„Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Mißtraust Du
mir, so frage ihn. selber. Seine Antwort ist maßgebend
für Dich. Doch lassen wir das zwischen uns ruhen.
Die Pflicht, unter deren Druck ich meine Empfindungen
knechte, kann durch nichts gelockert werden. Und so
wollen wir voneinander scheiden, zwar auf Nimmer-
wiedersehen, aber als Freunde, die, nur durch eine::
grausamen Schicksalsspruch getrennt, sich gegenseitig nichts
vorzuwerfen haben."
Mit einer hastigen Bewegung erhob sich Konstanze.
„Wie Du sagst, soll es geschehen," sprach sie eigen-
thümlich scharf, während doch Thränen in ihren Augen
zusammenliefen; „was in Deinen Kräften lag, uns
das Scheiden zu erleichtern, Du hast es redlich gethan."
Sie hatte den Zügel von der Bank gelöst und über
den Hals des Pferdes geworfen. Lionel wollte ihr
die Hand zum Aufsteigen bieten, wurde aber durch das
Pferd gestört, das sie dicht vor sich hinzog. Bevor er
nach der anderen Seite herumgetreten war, hatte sie
flink die Bank bestiegen und von dieser aus sich in den
Sattel geschwungen.
„Einen derartigen Abschied konnte ich nicht ahnen,
noch weniger lag er in meiner Absicht," bemerkte Lionel
bitter, und während seine Blicke entsagend an dem
schönen, beinahe ausdrucklos schauenden Antlitz hingen,
beugte er sich wieder unter dem von der verlockenden
Gestalt ausströmenden Zauber.
. „Ich glaubte Deinen unzweideutig kundgegebenen
Wünschen entgegenkommen zu müssen," versetzte Kon-
stanze, die Zügel hastig ordnend. „Lebe wohl," fügte
sie frostig hinzu, „und sei überzeugt, daß meine besten
Wünsche Dich auf allen Deinen Wegen begleiten. Von
Wiedersehen spreche ich nicht." Sie reichte Lionel die
Hand, entriß sie ihm aber, bevor er den letzten Gruß
erwiedert hatte. Gleichzeitig bäumte das Pferd sich
unter dem Schlage empor, mit dem die schwanke Reit-
peitsche seine Weiche traf, und in gestreckten: Galop
stürmte es davon. Ihre Bewegungen waren schnell
gewesen, jedoch nicht schnell genug, um vor Lionel zu
verheimlichen, daß die frische Lebensfarbe ihrer Wangen
erbleichte, die bei den letzten Worten feindselig leuchten-
den Augen plötzlich in Thränen schwammen. Traurig
blickte er ihr nach, bis dazwischen tretende Waldvege-
tation sie verbarg. Als wäre eine erdrückende Last
von seiner Seele gesunken, richtete er sich höher aus.
„Es war am besten so," sprach er in Gedanken,
„das Maß war voll, es gab keine andere Möglichkeit
mehr. Um des Namens willen, der ihn: die bisher
streng verschlossen gebliebenen Kreise öffnen, seinem
Raube die Weihe geben sollte, hätte er dem bettel-
armen Nachbar die Arme weit geöffnet." Und nach
einer Pause lispelnd: „Arme Konstanze; Dich traf es
nicht härter als mich selber. Arme Konstanze —
möchte ich mich getäuscht haben — aber in Deinen
Augen glühte ein Dämon, der mich beängstigte. Ja,
es war am besten so —" und das Haupt neigend, die
Hände auf dem Rücken ineinander gelegt, bewegte er
sich auf die Försterei zu. Der alte Hubert erwartete
ihn schon. —
Hebt 2.
Konstanze hatte nach dem jähen Abschied ihrer so
lange beherrschten Leidenschaftlichkeit freien Spielraum
gewährt. Wohin das Pferd sie trug, war ihr gleich-
giltig, so lange dessen Gangart im Einklang mit ihrer
Stimmung blieb. Ihre Thränen waren versiegt. Statt
deren regte in ihren Augen sich freier jener Dämon,
vor welchem Lionel erschrak. Erst angesichts des Ge-
höftes, auf dessen Vorplatz die letzten Käufer sich ge-
räuschvoll zum Aufbruch rüsteten, griff sie fester in die
Zügel. Der Gesellschaft, die sie peinlich an die statt-
gefundene Versteigerung erinnerte, ausweichend, begab
sie sich, anstatt heimwärts zu reiten, auf den Strand-
pfad. Derselbe führte nach dem abgelegenen Kirchdorf.
Wie lange sie von Hause fortblieb, kümmerte sie wenig.
Je länger, um so lieber. WaS sie in ihrem Verkehr
mit Lionel gelitten, sollten selbst die Eltern nicht aus
ihren Zügen herauslesen. Wieder auf den sandigen
Landweg zurückgekehrt, mäßigte sie die Bewegungen des
Pferdes zum langsamen Schritt, bis endlich die ersten
abendlichen Schatten sich bemerklich machten. Sie hielt
an. Gleichmüthig spähte sie um sich. Zu beiden Seiten
hinderte dichte Tannenschonung die Fernsicht; aber sie
wußte, wo sie sich befand. Der Pfad, aus dem Lionel
die Einsiedelei seines Freundes Jonas verließ, lag
hinter ihr. Eine kurze Strecke weiter, und sie stieß
auf den sich abzweigenden Weg, der durch den Forst
auf das zu dem heimathlichen Gutshofe gehörende freie
Feld hinausführte. Bevor sie ihn erreichte, wurde sie
einer ihr entgegenkommenden Fußgängerin ansichtig.
Sie erkannte Eva. Am linken Arn: trug diese ein Körb-
chen; nut der rechten Hand schwang sie spielend einen
Tannenzweig, den sie im Vorbeigehen gebrochen hatte.
Indem Konstanze die Kleine beobachtete, wie sie so
flink und anmuthig, so sorglos einherschritt, runzelte
sie die Brauen zürnend. Sie beneidete das arglose
junge Geschöpf um die Heiterkeit, mit der es ein Lied-
chen in den Wald hineinsang, um den glücklichen Seelen-
frieden, welcher die zierliche Gestalt umwebte. Vielfach
hatte Lionel mit einer gewissen Begeisterung von seinem
Verkehr mit Jonas und dessen lieblicher Schutzbefohlenen
zu ihr gesprochen. Es leuchtete der Argwohn in ihr auf,
daß Lionel's heutige Entscheidung aus den Einfluß des
den Meeresfluthen entrissenen geheimnißvollen Fremden
zurückzuführen sei, und der bei Eva's erstem Anblick
aufsteigende Verdruß verwandelte sich in Gehässigkeit.
Und was berechtigte überhaupt das einfache Landkind,
das für sein glückliches Behagen keinen Platz in der
jungen Brust fand und es daher hinausjubelte, zu solchen
Vorzügen, während sie selbst an ihrer Verbitterung
hätte ersticken mögen!
Schnell näherten sich Beide einander. Eva, die auf
dem höher gelegenen, dicht an der Schonung hinlaufen,
den Fußpfade einherschritt, gewahrte, daß Konstanze,
die so lange den Fahrweg gehalten hatte, ihr Pferd
ebenfalls nach dem Pfade hinauflenkte, eine Bewegung,
die nicht mißdeutet werden konnte. Alsbald stellte sie
ihr Singen ein. Gleichsam instinktartig fühlte sie her-
aus, daß die Reiterin sie von dem Pfade hinunter
zu drängen beabsichtigte, und ihr Trotz erwachte. Nur
wenige Schritte trennten sie noch von dem Pferde, als sie
ihren Zweig hob und es dadurch zum Stehen veranlaßte.
„Platz da!" herrschte Konstanze ihr zu.
„Ich befinde mich hier aüf dem Pfade für Fuß-
gänger. Für Pferde ist da der Sandweg," antwortete
Eva gekränkt.
„Platz da, oder ich überreite Dich!" wiederholte
Konstanze zornsprühcnd.
„Auf freundliche Aufforderungen thue ich Alles, aus
fremden Befehl nichts," hieß es unerschrocken zurück,
und die großen Kinderaugen funkelten seltsam, während
die Flügel der zierlich geformten Nase eigenthümlich
zitterten.
Konstanze trieb ihr Pferd an. Gleichzeitig hob Eva
den Zweig höher, und ihn nach dem Kopfe des Pferdes
schwingend, bewirkte sie, daß es scheute und in den Weg
hinabsetzte.
„Niedrige Kröte," zischte Konstanze, und das Pferd
herumwerfend, sprengte sie dicht an die Böschung heran.
Weit holte sie mit der Reitpeitsche aus, um sie mitleid-
los auf die Kleine niedersausen zu lassen. Kaum aber
befand der Kopf des Pferdes sich in gleicher Höhe mit
Eva, als diese, einem unbestimmten Triebe der Selbst-
hilfe nachgebend, mit ihrem Zweig nach ihn: schlug und
es heftig auf die Nüstern traf. Dann beobachtete sie,
über die Folgen erschrocken, wie es sich bäumte und
Konstanze das Gleichgewicht verlor. Doch ebenso schnell,
wie sie als gewandte Reiterin ihren Sitz zurückgewann
und des Pferdes wieder Herr wurde, schob Eva sich
rückwärts in das Tannendickicht hinein.
Konstanze, bebend vor Zorn und Beschämung, trieb
das Pferd abermals vor die muthige kleine Gegnerin
hin. Wie nach einem Angriffspunkt spähend, betrachtete
sie das in leidenschaftlicher Erregung glühende Kinder-
antlitz, aus dem die großen Augen ihren Blicken feind-
selig und doch ivie zaghaft begegneten.
„In Dir verrätst sich die rohe Natur Deines Vaters,"
preßte sie, sich selbst vergessend, zwischen den fest auf-
einander ruhenden Zähnen hervor.
in dem Bewußtsein, daß bei einem Manne das Pflicht-
gefühl stärker sein soll, als die heiligsten HerzenS-
regungen. Gleichsam als Bettler ziehe ich in die Welt
hinaus, jedoch nicht muthlos. Ich bin indessen darauf
gefaßt, daß, wenn überhaupt, viele Jahre darüber Hin-
gehen, bevor ich daran denken kann, die heiinathliche Erde
noch einmal zu betreten. Darin liegt zugleich die Er-
klärung dafür, daß unser heutiges Scheiden wohl ein
solches auf ewig sein wird."
Konstanze hatte sich abgewendet. Sie war bleich
geworden, wollte verheimlichen, daß Thränen in ihren
Augen zusammenliefen. Erst nach einer Pause war sie
fähig, äußerlich leidenschaftslos zu erwiedern: „Was
ich jetzt sage, kann nur die aufrichtigste, durch zahllose
Beweise geheiligte treue Zuneigung mir erpressen. Und
so frage ich Dich zagenden Herzens: wäre es denn ein
Fehl, wenn Du auf Grund unserer gegenseitigen An-
hänglichkeit, auf Grund der Achtung, die meine Eltern
Dir zollen, dennoch den Versuch unternähmest, wieder
in den Besitz des Erbes Deiner Vorfahren —"
„Konstanze, halte ein!" rief Lionel bestürzt aus,
„vollende nicht, was mich beleidigen muß. Trübe nicht
das Bild, das ich von Dir mit in die Ferne nehme,
indem Du mich durch einen Vorschlag erniedrigst, der
unmöglich in Deinem eigenen Kopfe entstanden sein kann,
selbst dadurch nicht entschuldigt wird, daß Dein Herz
dabei mitspricht. Denn zwischen uns gähnt eine Kluft,
die durch nichts überbrückt werden kann, nicht durch die
heißeste Liebe, nicht durch die glühendste Opferwilligkeit.
Wurde mir Alles geraubt, so blieb mir wenigstens ein
unantastbares Gut in den: Stolz, der mir verbietet, in
die Rolle eines elenden Abenteurers einzutreten, um
den Preis der Selbstachtung nach einein Glück zu Haschen
— und Dein Besitz wäre ja ein namenloses Glück —
welches auf mein ganzes Leben bis zum letzten Athem-
zuge einen finsteren Schatten würfe."
Konstanze preßte die Hand auf's Herz. In diesen
Minuten kannte sie nur unverfälschte, hingebende Liebe,
und von dieser durchdrungen, sprach sie mit bebenden
Lippen: „Deinen Stolz fürchtete ich ; ihn zu tadeln liegt
mir dagegen fern. Aber es gibt einen Weg, auf dein
die endliche Erfüllung unserer einstigen Hoffnungen in
den Bereich der Wahrscheinlichkeit — o, mehr noch: der
Gewißheit getragen werden kann, ohne daß Du deshalb
das Urtheil der Menschen zu scheuen brauchtest — bitte,
unterbrich mich nicht. Laß mich ausreden, ich beschwöre
Dich darum bei dein hingebenden Vertrauen, das so
lange zwischen uns waltete. Ich schicke voraus: was
vor Dir zu offenbaren ich im Begriff stehe, wurde
nicht in meinen: Kopfe geboren — woher hätte bei
meinem Bangen und Sorgen um Dich der Raum für
Berechnungen kommen sollen —"
„Es muß also auf Deinen Vater zurückgeführt
werden?" fiel Lionel rauh ein, und beim besten Willen
vermochte er nicht, eine gewisse Geringschätzung aus
seiner Stimme auszuscheiden.
„Ja, auf ihn," antwortete Konstanze verletzt. „Hin-
sichtlich seiner Erziehung kann er sich allerdings nicht
mit Männern aus Deinen Kreisen messen. Etwas
besitzt er dagegen, was nicht durch vornehme Manieren,
nicht durch Reichthum oder hochklingende Namen ge-
schaffen oder ersetzt werden kann, und das ist die Liebe
zu seiner Tochter, seinem einzigen Kinde."
„So weiß er um die zwischen uns bestehenden Be-
ziehungen?"
„Sollten die Augen der Eltern nicht mindestens
ebenso scharf sein, wie die anderer'Leute? Sollten sie
nicht ahnen, was inan sich allerwärtS unstreitig zuraunte?
Darüber gesprochen hat der Vater zwar nie zu mir;
allein aus" dein Auftrage, den er mir für Dich ertheilte,
geht verständlich hervor, daß er sich eifrig mit einem
Plane beschäftigte, daraus hinzielend, das Glück seiner
Tochter zu begründen und zu sichern. Und jetzt höre;
höre aber mit dem Herzen, nicht allein mit dem
kalt erwägenden Verstände. Ich soll Dir nämlich nahe
legen, einen engeren Geschäftsverkehr mit ihm dadurch
einzuleiten, daß Du ihm das Vorwerk zu einein Preise
verpachtest, der von Anbeginn nach dem muthmaßlichen
Ertrage des kommenden vierten Jahres berechnet werden
soll. Zu dem Pachtzins zählt die Verpflichtung, die
Gebäude, namentlich das Wohnhaus, zu erneuern. Für
Deine Person räth er Dir, als Regierungsassessor zu
Deinem Beruf zurückzukehren. Solltest Du indessen
nach Fertigstellung des Gehöftes das freie Landleben
dein Aufenthalt in der Stadt vorziehen, so würde er
Dich als Nachbar hoch willkommen heißen. So lau-
teten seine Worte, die freundlich verheißend für mich
klangen; doch auch Dir nur als ein Beweis seines auf-
richtigen Wohlwollens gelten können."
„Die Gründe, die ihn zu solchem Vorschläge be-
wegen, zu beurtheilen, unternehme ich nicht, zumal er
mir gegenüber das Vorwerk als werthlos bezeichnete,"
versetzte Lionel wiederum hart; „wohl aber mag ich
fragen: weshalb trat er mit solchen Bedingungen
nicht vor meinen Vater hin? Weshalb — weshalb —"
er brach ab. Wie um eine schwere Anklage zurück zu
drängen, preßte er die Lippen aufmrander, fuhr aber als-
bald wieder fort: „Ich meine, er mußtedoch nur besten
Das Buch fü r A l l e.
wissen, zu welcher Entsagung, zu welchen Einschrän-
kungen, sogar Entbehrungen der alte Herr gezwungen
war."
„Er fürchtete seinen unnahbaren Stolz, ich weiß eS,
mußte gewärtigen, schroff abgewiesen zu werden. Viel-
leicht schwebte ihm die Möglichkeit vor, durch ein ein-
ziges unbedachtes Wort Deinen Vater zu einem Aus-
spruch zu reizen, der sich feindselig zwischen uns Beide
gedrängt hatte."
„Wenn er den Stolz des Vaters fürchtete, durfte
er da voraussetzen, daß der des Sohnes hinfälliger sei?"
fragte Lionel, und Konstanze glaubte abermals ver-
steckten Hohn aus seiner Stimme herauszuhören; „um
Dich zu gewinnen, hätte ich den Kampf mit Himmel
und Hölle ausgenommen, das betheuere ich Dir bei
meinen: höchsten Gut, bei meiner Ehre; allein um mich
zu einer Handlungsweise zu verstehen, die nichts An-
deres bedeutet, als den Mangel des sittlichen Gefühls
in der Oeffentlichkeit zu bemänteln — nein, lieber will
ich in der Fremde nut Noth und Elend kämpfen, hinter
einem Zaun verenden und zu den Verschollenen gezählt
werden. Das sage Deinem Vater Wort für Wort.
Wuchs er in einfachen Sitten auf, was ihn: sicher nicht
zum Vorwurf gereicht, so hindert ihn das nicht, mich
vollkommen zu verstehen," und feindselig klangen die
letzten Worte, daß Konstanze vor ihm zurückbebte.
„Lionel!" rief sie klagend aus, „Du bist nicht auf-
richtig. Andere Dinge sind es, aus denen Du einen
Vorwurf für ihn herleitest. Vertraue es nur un-
geschminkt an. Unmöglich kannst Du ihn für das auf
Dich hereingebrochcne Verhängnis; verantwortlich machen
wollen, ebensowenig die Gesinnungen unterschützen, die ihn
zu der von mir überbrachten Botschaft bestimmten."
Finster sah Lionel ii: die ihn bange überwachenden
Augen. In seinen Zügen verrietst sich der Kampf, der
in seinen: Inneren tobte, während er sich gewaltsam
gegen den ihn wieder umschlingenden Zauber des
schönen Mädchens auflehnte. Erst nach längerem
Schwanken begann er mit seltsam veränderter Stimme:
„Ich habe nichts mehr hinzuzufügen. Mißtraust Du
mir, so frage ihn. selber. Seine Antwort ist maßgebend
für Dich. Doch lassen wir das zwischen uns ruhen.
Die Pflicht, unter deren Druck ich meine Empfindungen
knechte, kann durch nichts gelockert werden. Und so
wollen wir voneinander scheiden, zwar auf Nimmer-
wiedersehen, aber als Freunde, die, nur durch eine::
grausamen Schicksalsspruch getrennt, sich gegenseitig nichts
vorzuwerfen haben."
Mit einer hastigen Bewegung erhob sich Konstanze.
„Wie Du sagst, soll es geschehen," sprach sie eigen-
thümlich scharf, während doch Thränen in ihren Augen
zusammenliefen; „was in Deinen Kräften lag, uns
das Scheiden zu erleichtern, Du hast es redlich gethan."
Sie hatte den Zügel von der Bank gelöst und über
den Hals des Pferdes geworfen. Lionel wollte ihr
die Hand zum Aufsteigen bieten, wurde aber durch das
Pferd gestört, das sie dicht vor sich hinzog. Bevor er
nach der anderen Seite herumgetreten war, hatte sie
flink die Bank bestiegen und von dieser aus sich in den
Sattel geschwungen.
„Einen derartigen Abschied konnte ich nicht ahnen,
noch weniger lag er in meiner Absicht," bemerkte Lionel
bitter, und während seine Blicke entsagend an dem
schönen, beinahe ausdrucklos schauenden Antlitz hingen,
beugte er sich wieder unter dem von der verlockenden
Gestalt ausströmenden Zauber.
. „Ich glaubte Deinen unzweideutig kundgegebenen
Wünschen entgegenkommen zu müssen," versetzte Kon-
stanze, die Zügel hastig ordnend. „Lebe wohl," fügte
sie frostig hinzu, „und sei überzeugt, daß meine besten
Wünsche Dich auf allen Deinen Wegen begleiten. Von
Wiedersehen spreche ich nicht." Sie reichte Lionel die
Hand, entriß sie ihm aber, bevor er den letzten Gruß
erwiedert hatte. Gleichzeitig bäumte das Pferd sich
unter dem Schlage empor, mit dem die schwanke Reit-
peitsche seine Weiche traf, und in gestreckten: Galop
stürmte es davon. Ihre Bewegungen waren schnell
gewesen, jedoch nicht schnell genug, um vor Lionel zu
verheimlichen, daß die frische Lebensfarbe ihrer Wangen
erbleichte, die bei den letzten Worten feindselig leuchten-
den Augen plötzlich in Thränen schwammen. Traurig
blickte er ihr nach, bis dazwischen tretende Waldvege-
tation sie verbarg. Als wäre eine erdrückende Last
von seiner Seele gesunken, richtete er sich höher aus.
„Es war am besten so," sprach er in Gedanken,
„das Maß war voll, es gab keine andere Möglichkeit
mehr. Um des Namens willen, der ihn: die bisher
streng verschlossen gebliebenen Kreise öffnen, seinem
Raube die Weihe geben sollte, hätte er dem bettel-
armen Nachbar die Arme weit geöffnet." Und nach
einer Pause lispelnd: „Arme Konstanze; Dich traf es
nicht härter als mich selber. Arme Konstanze —
möchte ich mich getäuscht haben — aber in Deinen
Augen glühte ein Dämon, der mich beängstigte. Ja,
es war am besten so —" und das Haupt neigend, die
Hände auf dem Rücken ineinander gelegt, bewegte er
sich auf die Försterei zu. Der alte Hubert erwartete
ihn schon. —
Hebt 2.
Konstanze hatte nach dem jähen Abschied ihrer so
lange beherrschten Leidenschaftlichkeit freien Spielraum
gewährt. Wohin das Pferd sie trug, war ihr gleich-
giltig, so lange dessen Gangart im Einklang mit ihrer
Stimmung blieb. Ihre Thränen waren versiegt. Statt
deren regte in ihren Augen sich freier jener Dämon,
vor welchem Lionel erschrak. Erst angesichts des Ge-
höftes, auf dessen Vorplatz die letzten Käufer sich ge-
räuschvoll zum Aufbruch rüsteten, griff sie fester in die
Zügel. Der Gesellschaft, die sie peinlich an die statt-
gefundene Versteigerung erinnerte, ausweichend, begab
sie sich, anstatt heimwärts zu reiten, auf den Strand-
pfad. Derselbe führte nach dem abgelegenen Kirchdorf.
Wie lange sie von Hause fortblieb, kümmerte sie wenig.
Je länger, um so lieber. WaS sie in ihrem Verkehr
mit Lionel gelitten, sollten selbst die Eltern nicht aus
ihren Zügen herauslesen. Wieder auf den sandigen
Landweg zurückgekehrt, mäßigte sie die Bewegungen des
Pferdes zum langsamen Schritt, bis endlich die ersten
abendlichen Schatten sich bemerklich machten. Sie hielt
an. Gleichmüthig spähte sie um sich. Zu beiden Seiten
hinderte dichte Tannenschonung die Fernsicht; aber sie
wußte, wo sie sich befand. Der Pfad, aus dem Lionel
die Einsiedelei seines Freundes Jonas verließ, lag
hinter ihr. Eine kurze Strecke weiter, und sie stieß
auf den sich abzweigenden Weg, der durch den Forst
auf das zu dem heimathlichen Gutshofe gehörende freie
Feld hinausführte. Bevor sie ihn erreichte, wurde sie
einer ihr entgegenkommenden Fußgängerin ansichtig.
Sie erkannte Eva. Am linken Arn: trug diese ein Körb-
chen; nut der rechten Hand schwang sie spielend einen
Tannenzweig, den sie im Vorbeigehen gebrochen hatte.
Indem Konstanze die Kleine beobachtete, wie sie so
flink und anmuthig, so sorglos einherschritt, runzelte
sie die Brauen zürnend. Sie beneidete das arglose
junge Geschöpf um die Heiterkeit, mit der es ein Lied-
chen in den Wald hineinsang, um den glücklichen Seelen-
frieden, welcher die zierliche Gestalt umwebte. Vielfach
hatte Lionel mit einer gewissen Begeisterung von seinem
Verkehr mit Jonas und dessen lieblicher Schutzbefohlenen
zu ihr gesprochen. Es leuchtete der Argwohn in ihr auf,
daß Lionel's heutige Entscheidung aus den Einfluß des
den Meeresfluthen entrissenen geheimnißvollen Fremden
zurückzuführen sei, und der bei Eva's erstem Anblick
aufsteigende Verdruß verwandelte sich in Gehässigkeit.
Und was berechtigte überhaupt das einfache Landkind,
das für sein glückliches Behagen keinen Platz in der
jungen Brust fand und es daher hinausjubelte, zu solchen
Vorzügen, während sie selbst an ihrer Verbitterung
hätte ersticken mögen!
Schnell näherten sich Beide einander. Eva, die auf
dem höher gelegenen, dicht an der Schonung hinlaufen,
den Fußpfade einherschritt, gewahrte, daß Konstanze,
die so lange den Fahrweg gehalten hatte, ihr Pferd
ebenfalls nach dem Pfade hinauflenkte, eine Bewegung,
die nicht mißdeutet werden konnte. Alsbald stellte sie
ihr Singen ein. Gleichsam instinktartig fühlte sie her-
aus, daß die Reiterin sie von dem Pfade hinunter
zu drängen beabsichtigte, und ihr Trotz erwachte. Nur
wenige Schritte trennten sie noch von dem Pferde, als sie
ihren Zweig hob und es dadurch zum Stehen veranlaßte.
„Platz da!" herrschte Konstanze ihr zu.
„Ich befinde mich hier aüf dem Pfade für Fuß-
gänger. Für Pferde ist da der Sandweg," antwortete
Eva gekränkt.
„Platz da, oder ich überreite Dich!" wiederholte
Konstanze zornsprühcnd.
„Auf freundliche Aufforderungen thue ich Alles, aus
fremden Befehl nichts," hieß es unerschrocken zurück,
und die großen Kinderaugen funkelten seltsam, während
die Flügel der zierlich geformten Nase eigenthümlich
zitterten.
Konstanze trieb ihr Pferd an. Gleichzeitig hob Eva
den Zweig höher, und ihn nach dem Kopfe des Pferdes
schwingend, bewirkte sie, daß es scheute und in den Weg
hinabsetzte.
„Niedrige Kröte," zischte Konstanze, und das Pferd
herumwerfend, sprengte sie dicht an die Böschung heran.
Weit holte sie mit der Reitpeitsche aus, um sie mitleid-
los auf die Kleine niedersausen zu lassen. Kaum aber
befand der Kopf des Pferdes sich in gleicher Höhe mit
Eva, als diese, einem unbestimmten Triebe der Selbst-
hilfe nachgebend, mit ihrem Zweig nach ihn: schlug und
es heftig auf die Nüstern traf. Dann beobachtete sie,
über die Folgen erschrocken, wie es sich bäumte und
Konstanze das Gleichgewicht verlor. Doch ebenso schnell,
wie sie als gewandte Reiterin ihren Sitz zurückgewann
und des Pferdes wieder Herr wurde, schob Eva sich
rückwärts in das Tannendickicht hinein.
Konstanze, bebend vor Zorn und Beschämung, trieb
das Pferd abermals vor die muthige kleine Gegnerin
hin. Wie nach einem Angriffspunkt spähend, betrachtete
sie das in leidenschaftlicher Erregung glühende Kinder-
antlitz, aus dem die großen Augen ihren Blicken feind-
selig und doch ivie zaghaft begegneten.
„In Dir verrätst sich die rohe Natur Deines Vaters,"
preßte sie, sich selbst vergessend, zwischen den fest auf-
einander ruhenden Zähnen hervor.