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104

Das Buch für Alle.

Heft 4.


Ekconora Düse. (S. 106)

seiner jungen Frau abwendeu, die ihn vor Jahresfrist
über den ihm so schwer gewordenen Verzicht auf die
schöne Sophie getröstet hat, und die sich dort auf dem

Herr Schlosser früher gestorben, als der Erblasser —
anscheinend, denn in Wahrheit ist das Verhältniß
umgekehrt. Nur wenige Worte genügen, nm das zu
erweisen. Die Zeit ist bekanntlich nicht auf allen
Punkten der Erde gleich, sondern es haben nur
die auf demselben Meridian liegenden Orte
gleiche Zeit. Jeder Grad macht einen Unter-
schied von 4 Minuten, jede der 60 Minuten
also, in die ein Grad eingetheilt ist, einen sol-
chen von 4 Sekunden. Zandvoort liegt 22 Grad
21 Minuten östlich von Ferro, ist also von
der Stelle, wo Herr Schlosser ertrunken ist,
um 29 Grad 26 Minuten entfernt, was einen
Zeitunterschied von 1 Stunde 58 Minuten
24 Sekunden ergibt."
In einem Augenblick waren überall Blei-
stifte thütig, um Neuber's Nechuuug zu kontro-
liren. Er wartete, bis der Vorsitzende von sei-
nem Blatt Papier aufblickte und ihm zunickte,
und schloß dann seine Darlegung:
„Als Herr Riedel starb, schwamm die Pacht
,Fairy Queen' noch auf dem Ocean, denn
an jenem Punkte des Erdballs war es erst
5 Uhr 46 Minuten 66 Sekunden. Als die
Pacht versank, war Herr Riedel schon einige
Zeit todt, denn in Zandvoort war es um jene
Zeit schon 8 Uhr 28 Minuten 24 Sekunden.
Mit anderen Worten: Herr Riedel, der Erb-
lasser, ist 43 Minuten 24 Sekunden, beinahe
dreiviertel Stunden vor Herrn Schlosser ge-
storben."
Herr Kurt Eisner stand auf. „In meines
Vaters und meinem Namen habe ich nur noch
eine Erklärung abzugeben. Wir waren, so
lange das formale Recht auf unserer Seite
war, zu dem weitestgehenden Entgegenkommen
bereit: jetzt, da das Recht so klürlich auf Sei-
ten der Gegenpartei ist, gratuliren wir auf-
richtig und entsagen allen Ansprüchen auf das
Erbe des Herrn Riedel."

Seitdem sind zehn Jahre verflossen. Im
Garten einer der schönsten Villen in Harveste-
hude bei Hamburg erfüllt lustiges Kiudergeschrei die
Lüfte. Herr Professor Neuber kaun davor kaum seinen
beiden Zuhörern, Herrn Werner und Kurt Eisner, das
schwierige wissenschaftliche Problem erklären, das Gegen-
stand seiner neuesten Arbeit ist. Auch ist Herr Eisner
ein wenig zerstreut, denn er kann das Auge nicht von

Rasenplatze in lustigem Jagen mit Neuber's beiden
Mädchen und einem krauslockigen Buben herumtummelt.
Lächelnd bricht endlich der Professor ab: die Un-
aufmerksamkeit Eisner's benrtheilt er sehr nachsichtig, ist
doch auch seine Liebe zu Sophie in ihrer Ehe immer
nur tiefer und inniger geworden.

Die Katastrophe bei Zt. Gervais.
(Mit 3 Bildern auf Seite 101.),
"^n ähnlicher Lage wie Gastein, liegt in Obersa-
voyen an der nach Chamounix und dem Mont-
blanc führenden Straße das Bad St. Gervais in einer
engen, von dem Flüßchen Bon-Nant durchströmten
Felsschlucht. Höher hinauf am Bergabhange über
der Schlucht liegt das Dorf St. Gervais. Einer der
beliebtesten Spaziergänge ist das eine halbe Stunde
entfernte Thal Montjoie mit den Dörfern Vernet,
les Bras und Bionnay. Bei letzterem ergießt sich
ein kleiner Bach in den Bon-Nant, der vom Bion-
nay-Gletscher kommt, welcher ein Ausläufer des
eigentlichen Montblanc ist, von dessen Spitze er
etwa 2 Kilometer entfernt liegt. Dieser Gletscher
und der erwähnte kleine Bach haben nun die furcht-
bare Katastrophe vom 12. Juli 1892 verschuldet,
die unsere 8 Bilder auf S. 101 zur Anschauung
bringen. Wie es scheint, ist nämlich unter dem Ein-
fluß sehr warmer Winde ein großer Theil des Glet-
schers geschmolzen und hat zuerst einen gewaltigen
See gebildet, der durch die Eiswände ringsum fest-
gehalten wurde. Sobald nun aber auch diese Dämme
geschmolzen waren, stürzte die ungeheure Wassermasse
mit, Fels- und Eisblöcken thalabwärts und riß auf
diesem Wege natürlich Alles fort, was sie hemmte.
Das erste Hinderniß, welche die Fluth im Thale
fand, das sie gegen halb zwei Uhr in der Morgen-
frühe erreichte, war eine steinerne Brücke, über
welche die Straße von St. Gervais nach Contamines
führte. Von dieser Brücke ist auch nicht ein Stein-
splitter übrig geblieben. Dann ereilte das Verder-
ben das Dorf Bionnay (siehe das obere Bild), das
in einem Augenblicke vom Erdboden wegrasirt
wurde; nur die Schule ist wunderbarerweise un-
versehrt geblieben. Die ganze Wassermasse stürzte
sich nun in das Bett des Bon-Nant und wälzte sich
dem Bade St. Gervais mit seinen ausgedehnten
Baulichkeiten und reizenden Anlagen zu. „Alle
Welt schlief im Hotel," schreibt ein Augenzeuge.
„Plötzlich wurde ich durch einen schrecklichen Lärm
aufgeweckt, dem vergleichbar, welchen das Vorüber-
ziehen eines Cyklons hätte hervorbringen können.
Das Haus schien durch ein Erdbeben erschüttert.
Ich stürzte zum Fenster. Es war schwarze Nacht.
Im ersten Augenblick war es mir unmöglich, mir
Rechenschaft abzulegen von dem, was vorging. Ein
ungeheurer Strudel, der brodelte und schäumte und Felsstücke
mit sich führte, stürzte sich in die Schlucht. Ich fühlte, daß
das Gebäude in seinen Grundvesten schwankte und hatte nur
gerade noch Zeit, durch das Fenster auf das Dach zu klettern.
Dort bemerkte ich eine Dame, die in ein Betttuch gewickelt war.
Unter tausend Mühen gelang es mir, ihr auf das Dach der
Kapelle und dann auf die Felswand hinauszuhelfen. Wir

Iie Jampsgrotle in Wattngkia. Originalzeichnung von E. Buffetti. (S. 106)
 
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