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N6

Der Spruch des Schicksals.
Roman
von
Reinhold Orlmmrn.
(Fortsetzung.)
- (Nachdruck verboten.)
cht entstand eine kleine Bewegung unter
der Schaar im Hintergründe des Gema-
ches. Das Schluchzen der Frauen wurde
lauter, und auch über die Gesichter der
Männer rannen die Thränen. Aber auf
einen Wink des Grafen Wenzel leisteten
sie stumm dem Wunsche ihres Gebieters
Folge, und der grauköpfige Kammerdiener
war der Erste, der an die freie Seite des Lagers trat
und die dargebotene Hand des Fürsten ehrfurchtsvoll
mit seinen Lippen berührte.
Für jeden der älteren Leute hatte der Kranke ein
freundliches Wort; aber das Sprechen wurde ihm er-
sichtlich doch von Sekunde zu Sekunde schwerer, und
nach einem neuen Hustenanfall sank er kraftlos in die
Kissen zurück.
„Euch Anderen sage ich insgesammt Lebewohl,"
brachte er mit matter Stimme hervor, „denn für jeden
Einzelnen reicht's nicht mehr aus. In meinem Neffen
seht ihr den neuen Herrn, dem ihr nach meinem Tode
Gehorsam schuldig seid — den Fürsten zu Hohenstein
und den — künftigen — Gatten - meiner — Tochter."
Professor Ewald griff nach dem Handgelenk des
Kranken. Der Fürst machte noch einige Male den
Versuch zu sprechen; aber seine Worte verloren sich in
einem matten, unverständlichen Gemurmel, und nach
einer kleinen Weile war er ganz still. In dem weiten
Raume herrschte jetzt trotz der großen Zahl der an-
wesenden Personen ein tiefes Schweigen. Die Leute
wagten kaum noch zu athmen, denn sie Alle fühlten
die düstere Majestät des Todes, der als der mächtigste
aller Fürsten seinen Einzug in das alte Herrenhaus
gehalten. Hertha hatte ihre thränennasse Wange auf
die Hand des Vaters gelegt, und ein Ausdruck müder
Hoffnungslosigkeit war auf ihrem marmorblassen Ge-
sichtchen. Graf Wenzel war an das Faßende des
Bettes getreten und verwandte keinen Blick von dem
Gesicht des Sterbenden. So verging Minute auf Mi-
nute, ohne daß sich eine merkliche Veränderung in dem
Aussehen des Fürsten gezeigt hätte. Es war ein stiller
Todeskampf, welchen er kämpfte, fast nur ein sanftes
Hinüberdämmern in jenen Schlummer, der besser und
tiefer ist als jeder vorhergegangene, weil er keine ban-
gen Träume und kein schmerzliches Erwachen kennt.
Eine lange, schier unendliche Viertelstunde hindurch
hatten Alle so in regungslosem Schweigen verharrt.
Da ließ Professor Ewald seine Finger von dem Puls
des Fürsten und legte die Hand auf seine Brust in
der Gegend des Herzens.
Eine Minute des Wartens noch; dann neigte er
sich über ihn und drückte ihm mit sanfter Bewegung
die Augen zu.
Mannhaft und tapfer wie ein rechter Soldat war
Fürst Chlodwig Hohenstein gestorben. Kein Seufzer,
der als ein Klagelaut hätte gedeutet werden können,
war über seine Lippen gekommen, und außer dem be-
obachtenden Arzte hätte Niemand aus seiner Umgebung
den Moment feststellen können, in welchem er seinen
letzten Athemzug gethan.
Lieutenant Wenzel aber wurde eine halbe Stunde
später von dem Güterdirektor und von dem Justizrath,
mit denen er in einem anderen Zimmer eine kurze
Unterredung hatte, nicht mehr wie bisher als „Herr
Graf", sondern als „Eure Durchlaucht" angeredet.

Gkftes Kapitel'.
„Der Herr Doktor ist augenblicklich in Anspruch
genommen, und Sie werden die Güte haben müssen,
gnädige Frau, sich für eine kürze Zeit zu gedulden."
Das war die Antwort, welche der Bureauvorsteher
des Rechtsanwalts Hermann Währungen der in tiefste
Trauer gekleideten Dame, die den Doktor auf der Stelle
zu sprechen wünschte, ertheilen mußte, und nach einem
sekundenlangen Schwanken entschloß sich die Besucherin
in der That, im Vorzimmer des vielbeschäftigten An-
walts auf den Augenblick ihrer Vorlassung zu warten.
Die Schreiber, welche neugierige Blicke auf die
schlanke, vornehme Erscheinung warfen, konnten hinter
dem langen, dichten Witwenschleier die Züge ihres Ge-
sichtes nicht erkennen; aber sie sahen doch zwei glän-
zende, dunkle Augen, die Manchem von ihnen das in
Aktenstaub und mechanisch ödem Einerlei der Tages-
frohne schier vertrocknete Herz gar seltsam höher schlagen
ließen.
Nach etwa zehn Minuten öffnete sich die Thür,
welche in Mohrungen's Privatzimmer führte, und ein
Herr mit dem scharf markirten bartlosen Gesicht eines


Das V u ch f ü r All c.
Schauspielers trat in das Vorzimmer hinaus. Mit
höflich stummem Gruße wollte er an der schwarz ge-
kleideten, verschleierten Dame vorübergehen. Da sah
auch er die dunkeln, glänzenden Augen hinter den Maschen
des feinen Gewebes, und wie unter dem lähmenden
Eindruck der gewaltigsten Ueberraschung haftete sein
Fuß am Boden. Seine Lippen bewegten sich, als
wolle er einen Namen rufen; aber es kam doch kein
Laut aus seinem Munde, und das Zucken seiner Ge-
sichtsmuskeln verrieth, daß es ein Uebcrmaß von Er-
regung war, welches ihm die Kehle zusammenpreßte.
Die Dame hatte sich erhoben und einen Schritt
gegen die Thüre hin gethan, aus welcher Paul Wismar
soeben gekommen war. Sie mochte erwartet haben,
daß er zur Seite treten und ihr den Weg freigeben
würde; aber er blieb wie angewurzelt auf demselben
Fleck, und der Raum zwischen den Pulten der >L>chreiber
und der Wand des Zimmers war zu schmal, als daß
sie trotzdem hätte an ihm vorübergehen können. So
standen sie wohl eine Minute lang Auge in Auge,
kaum um die Länge eines einzigen Schrittes vonein-
ander getrennt, und die Schreiber machten lange Hälse,
um zu sehen, wie diese merkwürdige Begegnung aus-
gehen würde.
Aber ihre Erwartungen wurden getäuscht, denn es
fiel nicht ein einziges Wort zwischen den Beiden. Als
wäre die Erstarrung, in welche das Unerwartete des
Zusammentreffens ihn versetzt hatte, endlich gelöst,
athmete der Schauspieler plötzlich tief auf, strich sich
mit der Hand über die Stirn und machte dann mit
einer kürzen Verbeugung der Dame in Trauer Platz
zum Weitergehen. Leicht neigte sie das Haupt mit dem
Witwenschleier gegen ihn, wie sie es wahrscheinlich
mit derselben Bewegung gegen jeden Fremden gethan
haben würde; er fühlte, wie die Schleppe ihres schwarzen
Kleides seine Füße streifte, und er vernahm wenige
Sekunden später das Zufallen der Thür, hinter der
sie verschwunden war.
„Pflegt diese Dame öfter hierher zu kommen?"
fragte er den Bureauvorsteher. Der aber schüttelte ver-
neinend den Kopf.
„Ich erinnere mich nicht, sie schon einmal gesehen
zu haben," meinte er, „es müßte denn sein, daß sie die
nämliche Dame wäre, die einmal vor Monaten noch
spät Abends den Herrn Doktor zu sprechen verlangte
und ebenfalls ihren Namen nicht nennen wollte. Ich
glaube fast, sie an den Augen wieder zu erkennen,
aber ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen; denn der
dichte Schleier macht es ja unmöglich, etwas von ihrem
Gesicht zu sehen."
Paul Wismar fragte nicht weiter, sondern ging
mit stummem Gruße hinaus. Der Bureauvorsteher aber
raunte dem ältesten Schreiber zu: „Ich bin ganz sicher
daß ich mich nicht täusche. Solche Augen gibt es nicht
allzu oft. Aber ich mochte ihm nicht sagen, daß sie
damals in der Schmurgerichtssache hier war, die gegen
ihn schwebte. Ich hörte durch die geschlossene Thür
einig Brocken von dem Gespräch, das sie mit dem
Doktor führte, und ich erinnere mich genau, daß dabei
ein paarmal der Name Wismar genannt wurde. Er
wäre wohl auch jetzt bei ihrem Anblick nicht so mächtig
erschrocken, wenn sie nicht zu der Geschichte in irgend
einer Beziehung stände." —
Während sich draußen im Vorzimmer seine Unter-
gebenen noch die Köpfe zerbrachen über den Zusammen-
hang des Romans, von dem ihnen zufällig ein paar
interessante Zeilen zu Gesicht gekommen waren, stand
Doktor Hermann Mohrungen mit unverhohlenem Er-
staunen der Besucherin gegenüber, die gleich nach ihrem
Eintritt den Schleier zurückgeschlagen und ihm jenes
feingeschnittene, klassisch schöne Antlitz gezeigt hatte, das
ihm von der ersten Begegnung her nur zu lebhaft in
der Erinnerung geblieben war.
Raffaella sah, daß seine erste Empfindung diejenige
des Erschreckens war, und unverkennbar war es eine
gewisse Genugthuung, die sich für einen flüchtigen
Moment in ihren Zügen ausprügtc.
„Ich weiß nicht, ob Sie sich meiner noch erinnern,
Herr Doktor," sagte sie mit weicher, schwermüthig klin-
gender Stimme; „aber ich kann es wohl beinahe an-
nehmen; denn die Umstände, unter denen unsere Lebens-
wege sich zum ersten Male kreuzten, waren ja von einer
Art, die man nicht so bald vergißt."
„Allerdings, Frau Gräfin," erwiederte Mohrungen
sehr ernst und zurückhaltend. „Aber ich muß gestehen,
daß ich gerade um der Beschaffenheit dieser Umstände
willen kaum erwartet hatte, Sie noch einmal bei mir
zu sehen."
„Ah, Sic zürnen mir also noch immer, weil ich
einen Unglücklichen gerettet habe?"
„Erlassen Sie es mir, auf diese Dinge zurück-
zukommen. Ich habe weder ein Recht noch einen Grund,
Ihnen zu zürnen: doch ich wüßte nicht, womit ich
Ihnen nach irgend einer Richtung hin zu dienen ver-
möchte."
„Das heißt, Sie weisen mich ab, noch ehe Sie
mich mit meinem Anliegen überhaupt haben zu Worte
kommen lassen? Denn ein Anliegen ist eS in der That,

HM 6.
das mich zu Ihnen führt. Ich habe in einer Sache,
die für mich noch die einzig wichtige auf Erden ist,
alle meine Hoffnungen auf Sie gesetzt, und ich meine,
schon aus Ritterlichkeit sollten Sie mich wenigstens an-
hören, bevor Sie mir Ihren Beistand versagen."
So demüthig und zugleich so süß einschmeichelnd
klang wieder jedes ihrer Worte, mit so heißer Veredtsam-
keit unterstützten die schwarzen Augen die Sprache ihrer
Lippen, daß Hermann Mohrungen seine ganze Willens-
kraft aufbieten mußte, um in seiner kühl ablehnenden
Haltung zu verharren.
„Es ist unmöglich, daß Sie gerade auf meinen
Beistand angewiesen sein sollten, Frau Gräfin," sagte er.
„Wenn es sich, wie ich vermuthe, um einen juristischen
Rath oder um Ihre Vertretung in einem Rechtsstreite
handelt, werden Sie unter der großen Zahl meiner
Kollegen ohne jede Schwierigkeit Jemand finden, der
Ihre Interessen mit demselben Eifer und demselben
Geschick wahrnimmt, die ich dafür aufzubieten vermöchte.
Viele werden es sich unzweifelhaft zur höchsten Ehre
anrechnen, mit Ihren: Vertrauen bedacht zu werden;
was also könnte Sie veranlassen, dasselbe gerade mir
zuzuwenden, mir, dessen bloßer Anblick die peinlichsten
Erinnerungen in Ihnen wachrufen müßte?"
„Erlauben Sie nur, Ihnen die Antwort auf diese
Frage etwas später zu geben. Vielleicht wissen Sie
nicht, daß ich seit einigen Monaten den Tod meines
Gatten zu betrauern habe?"
„Ich hörte davon, Frau Gräfin, und ich spreche
Ihnen mein Beileid aus an dem schweren Verlust, von
welchem Sie betroffen wurden."
„Ich danke Ihnen! Aber das ist doch nur eine
höfliche Redensart — nicht wahr? Denn wenn Sie
wirklich etwas wie Mitleid für mich Hütten, so würden
Sie mich nicht an Ihre Kollegen verweisen; oder
pflegen Sie häufig die Mandate abzulehnen, die man
Ihnen anbietet?"
„Ich leugne nicht, daß ich bisher nur ein einziges
Mal in diese Rothwendigkeit versetzt worden bin."
„Und aus welchem Grunde thaten Sie es da?"
„Ich sollte die Ansprüche eines Wucherers gegen
sein von ihm zu Grunde gerichtetes Opfer vertheidigen,
und trotz ihrer formellen Berechtigung mußte mir mein
Ehrgefühl verbieten, einen solchen Henkersdienst zu
übernehmen."
„Mit einem Menschen dieser Art also stellen Sie
mich auf die nämliche Stufe? Auch diesmal ist es
doch wohl Ihr Ehrgefühl, das Ihnen nicht gestattet, sich
zu meinem Sachwalter zu machen?"
„Ja Frau Gräfin, es ist das Gebot meiner Ehren-
haftigkeit, dem ich gehorchen muß. Noch einmal rathe
ich Ihnen, zu einen: anderen Anwalt zu gehen — zu
einem, der nichts von Ihrem Eide in dem Prozeß
Wismar und nichts von der Rolle weiß, welche Sie
in diesem Prozeß freiwillig übernommen haben."
„Und wenn ich Ihnen nun sage, daß es sich gar
nicht um mich und um meinen Vortheil handelt, daß
ich Ihr Wissen, Ihren Eifer, Ihr Gerechtigkeitsgefühl
anrufen wollte für ein armes, hilfloses Wesen, gegen
das man mit der brutalen Gewalt des Stärkeren
empörendes Unrecht verübt? Wenn ich mich trotz des
harten Verdammungsurtheils in Ihren letzten Worten
so weit erniedrige, Ihnen zu sagen, daß ich zu keinem
lebenden Menschen so blindes, uneingeschränktes Ver-
trauen habe, als zu Ihnen, wenn ich ungeachtet Ihrer
schroffen Ablehnung, die jede andere Frau tödtlich be-
leidigt haben würde, noch einmal von ganzen: Herzen
bitte: Seien Sie der Beschützer und Vertheidiger meines
Kindes! — werden Sie- sich auch dann noch weigern,
mich wenigstens anzuhören?"
Ohne ihr in's Gesicht zu sehen, deutete Mohrungen
auf einen Stuhl. „Ich bitte^Sie, Platz zu nehme::,
Frau Gräfin, und mir Ihre Sache vorzutragcn. Aber
ich betone, daß ich damit eine Zusage, Ihre Vertretung
zu übernehme::, noch nicht gemacht haben will."
Raffaella leistete seiner Einladung Folge und begann
mit ihrer weichen, wie von: neugewcckten Schmerz grau-
samer Eriunerungen jetzt leicht verschleierter Stimme:
„Mein unglücklicher Gatte ist, wie die skandal-
süchtigen Zeitungen ja leider ausführlich genug berichtet
haben, das Opfer eines Zweikampfes geworden, dem
er sich als Kavalier und als Mann von Ehre nicht hatte
entziehen können. Er hat sein Kind nie gesehen; denn
es wurde erst nach seinem Tode geboren, und als eine
fast wunderbare Gnade des Himmels muß ich es be-
trachten, daß es lebend das Licht der Welt erblickte.
Da unsere Eheschließung selbstverständlich unter Be-
obachtung aller gesetzlichen Vorschriften stattgefunden
hatte, und ihre Rechtsgiltigkeit auch nicht dem geringsten
Zweifel unterliegen kann, war mein armer kleiner Lothar
schon im Augenblick seiner Geburt der Erbe seines
todten Vaters, und nicht nur das hinterlassene Ver-
mögen desselben, sondern auch alle seine Rechte und
Ansprüche waren auf ihn übergegangen. Das ist doch
Gesetz — nicht wahr?"
„Wenn nicht besondere testamentarische Bestimmungen
entgegenstehen — ja!"
„Mein Gatte war ohne Testament gestorben. Er
 
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